Die Fotoserie "Rue Belouizdad, Algier, 2014-2019" von Lynn SK entstand in einer kleinen Wohnung in einem beliebten Quartier Algiers.
Lynn S.K. wurde im Dezember 1986 in Algerien geboren. In ihrem 7. Lebensjahr flüchtete die Familie wegen des Bürgerkriegs nach Frankreich. Während den folgenden Jahren kehrten sie immer wieder zurück, bis ihre Eltern entschieden sie nicht mehr mitzunehmen. Während langer Zeit kamen die Erinnerungen an Boumerdès, ihre Heimatstadt als Kind und dem Quartier Champ Manoeuvre in Algier nur in Fragmenten zurück. Die gedanklichen Reisen in Algerien und die Suche nach sich selbst verwoben sich immer mehr, bis sie im Herbst 2014, nach 17 Jahren endlich die Reise in ihr Heimatland antrat.
Nach der Rückkehr nach Algier wohnte sich in der Rue Belouizdad, in einem beliebten Quartier. Während ihres Aufenthaltes lebte sie mit ihren Tanten H. und N., die sich nach dem Tod einer Schwester in der Wohnung eingeschlossen haben und diese nicht mehr verliessen. Auch eine Krankenschwester, die die verstorbene Tante betreute wohnte in dieser Wohnung.
Die beiden Tanten verbringen den grössten Teil ihrer Zeit aus dem Fenster zu schauen, Zigaretten zu rauche und zu schlafen, als wollten sie sich von einem Land erholen, das sie misshandelt hat, sei es mit seiner Hogra [1]oder mit seinem "schwarzen Jahrzehnt[2]", dessen Narben kaum heilen. B., die Krankenschwester kümmert sich um alles und wenn sie nicht gerade betet, kocht sie die Lieblingsgerichte der Frauen.
Mitten in dieser Situation versöhnt sich Lynn mit ihren Erinnerungen an eine Welt, die ihr vertraut und zugleich fremd ist. Durch den Filter ihrer Erinnerungen versucht sie Bilder zu machen, Bilder von Momenten, die nicht vergessen werden dürfen.
Lynn S.K. (*1986) ist in Algerien geboren. Nach ihrem Filmstudium fokussierte sie sich auf die Fotografie. Aufgrund ihrer Arbeit über weibliche Identität und Adoleszenz arbeitet sie immer wieder mit Autorinnen wie Virginie Despentes (Bye-Bye Blondie) oder Lola Lafon für verschiedene Romane und Alben. Ihre Arbeiten wurden bereits in verschiedenen Einzel- und Gruppenausstellungen (Biennale des Photographes du Monde Arabe, Mairie du 4ème, Paris, les Rencontres de la Jeune Photographie Internationale, Queer Art Festival, Antwerpen) präsentiert und ausgezeichnet (Maghreb Photography Awards, Sony World Photography Awards, Foam Paul Huf Award (Nomination)).
Die Serie "Rue Belouizdad, Algier, 2014-2019" ist Teil der Projektion in der Ausstellung "Narratives from Algeria" im Photoforum Pasquart. Die Ausstellung dauert noch bis 6. September 2020. Die Serie ist zudem auf der Shortlist des CAP Prize. Die Gewinner des CAP Prize 2020 werden voraussichtlich während der photo basel im September bekannt gegeben.
Das Photoforum Pasquart ist eine der führenden Institutionen für Fotografie in der Schweiz. Im Herzen der Schweiz und zwischen zwei Sprachregionen gelegen, befindet es sich im Pasquart, einem Gebäude, das auch vom Kunsthaus und seiner Sammlung, dem Filmpodium, dem Kunstverein Biel und für den Ausstellungsraum der Visarte (espace libre) genutzt wird. Das Photoforum ist ausserdem Hauptpartner der Bieler Fototage, ein jährlich im Frühling stattfindendes Festival, für welches das Photoforum jedes Jahr ein Ausstellungsprojekt vorschlägt und umsetzt.
Der CAP Prize ist der internationale Preis für zeitgenössische afrikanische Fotografie, der seit 2012 jährlich an fünf Fotografen und Fotografinnen verliehen wird, deren Werke auf dem afrikanischen Kontinent entstanden sind oder die sich mit der afrikanischen Diaspora auseinandersetzen.
[1] "Hogra" kommt aus dem Arabischen (hakara (حقَرَ)). "Hogra" ist ein populärer Begriff mit negativer Konnotation, der vor allem in der algerischen Gesellschaft sehr verbreitet ist und mit Verachtung oder Geringschätzung übersetzt werden kann. Er kann auch mit Ungerechtigkeit, Machtmissbrauch und Erniedrigung übersetzt werden.
[2] Der Bürgerkrieg von 1992 bis 2000 – dieser Zeitraum wird oft als »décennie noire« (schwarzes Jahrzehnt) bezeichnet – hat Algerien zerrissen und die Dynamik der widersprüchlichen französisch-algerischen Geschichte neu belebt.