Krieg ohne Ende - «Nebel», der aus dem Flugzeug kam
«Als Kind sah ich, wie Flugzeuge eine Art Nebel versprühten.» Nguyen Bong, hager und kränklich, erzählt von seinen frühen Kriegserlebnissen, die später für die Tragödie seines Lebens sorgen werden. Betroffene, die den Herbizidregen am eigenen Leib erfuhren, beschrieben einen Geruch «wie eine reife Guava», andere sahen ihn in der Luft hängen «wie Nebel», reden von einem «Puderstreifen» oder davon, dass es wie «gemahlener Kalkstein» ausgesehen habe. Eigentlich zu poetische Beschreibungen für das Ungeheuerliche, das später folgte.
Wir sind im Dorf Tan Hiep, in der Provinz Quang Tri. Nguyen Bong, geboren 1962, Tagelöhner, erzählt, wie rund um das Dorf gekämpft wurde, wie er manchmal mithelfen musste, gefallene Amerikaner wegzutragen. Sein Dorf war ein sogenanntes Wehrdorf. «Wir lebten mehr oder weniger eingeschlossen. Nachts gingen wir heimlich raus und holten im Fluss die Fische, die als Folge des Sprühnebels zu Hunderten tot auf der Oberfläche trieben. Zu Hause assen wir sie.» So gelangte das Gift in Nguyen Bongs Organismus.
Die Regierungen der USA und Südvietnams umzäunten damals Tausende von Dörfern mit Bambuspalisaden. Diese Wehrdörfer sollten die Südvietnamesen unter Kontrolle halten und vor nordvietnamesischen Angreifern beziehungsweise dem Einfluss der Befreiungsfront FNL schützen.
Nguyen Bong ist Vater zweier schwer cerebral gelähmter Töchter – die Folge der mit Agent Orange vergifteten Fische. Die zwei Kinder, beide über dreissig, liegen nebeneinander auf einer Pritsche. Ihre Sprache haben sie verloren. Die Mutter, Tran Gai, sitzt neben ihnen auf den Holzbrettern. Schwach und kaum fähig zu sprechen. Die jahrzehntelange Pflege der Kinder hat ihr die letzten Kräfte geraubt und sie herzkrank gemacht.
Heute leben in Vietnam bereits drei Generationen mit Agent-Orange-bedingten Schäden. Über wie viele weitere Generationen sich die Erbschäden auswirken werden, weiss niemand. Pham Thanh Tien von der lokalen Opfervereinigung DAVA in Da Nang sagt: «Fast zwei Drittel der Agent-Orange-Kinder hier gehören zur ersten Generation; je knapp ein Viertel zur zweiten und dritten. Die Opfer der dritten Generation sind unter fünfzehn Jahre alt. Die meisten Betroffenen werden kaum älter als dreissig.»
Wie viele Agent-Orange-Vergiftete genau es im ganzen Land gibt, weiss niemand. Erst jetzt beginnt Vietnam, die Betroffenen flächendeckend zu erfassen. Bis heute existieren lediglich Schätzungen. Wichtigste Quellen für Opferzahlen im südostasiatischen Staat sind die nationale Opfervereinigung VAVA und das Vietnamesische Rote Kreuz, das eng an den Staat gebunden ist.
In fast 20’000 Sprüheinsätzen kamen laut neueren Forschungen der Columbia-Universität New York zwischen 2,5 und mehr als vier Millionen Menschen mit dem Gift in direkte Berührung. Über 3000 Dörfer und Weiler wurden direkt besprüht. Das nationale Rote Kreuz sagt, im Land gebe es etwa eine Million Menschen, die wegen dieses Herbizides krank oder behindert seien, inbegriffen rund 150’000 Kinder, die seit Kriegsende 1975 behindert geboren worden seien. Überprüfbar sind diese Zahlen nicht. Die US-Regierung hält sie für «unrealistisch». Doch auch wenn es weit weniger Betroffene sein sollten: Die Geschichte ist und bleibt eine Tragödie, verbunden mit unermesslichem Leid.
Peter Jaeggi ist freischaffender Autor, Fotograf sowie Reporter für Schweizer Radio SRF, Radio SWR2 und ORF1 sowie für verschiedene anderer nationale und internationale Medien. Schwerpunkte sind Arbeiten aus sozialen und naturwissenschaftlichen Bereichen.
Preisgekrönte Radio-Features von Peter Jaeggi über Agent Orange
Teil 1: https://soundcloud.com/aeschiried/spatfolgen-des-chemiewaffeneinsatzes-im-vietnamkrieg-teil-1
Teil 2: https://soundcloud.com/aeschiried/agent-orange-spaetfolgen-des
Roland Schmid ist freischaffender Fotojournalist. Er arbeitet für zahlreiche Schweizerische und internationale Medien und berichtet auch regelmässig aus Krisengebieten. Schwerpunktmässig berichtet er aus der Schweiz, aus Osteuropa und Asien.
Textauszüge und Bilder sind aus dem Buch Krieg ohne Ende, 2016 im Lenos Verlag
Bezugsquellen: Agent-Orange
Krieg ohne Ende
Spätfolgen des Vietnamkrieges
Agent Orange und andere Verbrechen
Konzept, Texte, Gestaltung: Peter Jaeggi
Bilder: Roland Schmid (Farbbilder), National Geographic (Schwarzweissbilder)
ISBN: 978 3 85787 473 4