Extra Terra…

Tanti Patati © Franziska Martin

Extra Terra – eine tiefgründige Reise in die faszinierende, alpine Vergangenheit des Tessins. Ausgehend von einem scheinbar bizarren Phänomen – dem Anbau von Gemüse auf Felsblöcken – beleuchtet Franziska Martin die Überlebenskunst der "Terrieri" im Bavona-Tal. Die Arbeit, die zwischen Dokumentation und Illusion oszilliert, verbindet historische Recherche mit poetischer Bildgestaltung und stellt grundlegende Fragen zur Beziehung zwischen Mensch und Umwelt.

Tanti Patati © Franziska Martin

Während einer Wanderung im Bavona-Tal stiess Franziska Martin auf einen beeindruckend grossen Felsblock, auf dessen oberer Fläche eine kleine Wiese wuchs. Steinstufen führten hinauf. Sie liess sich auf dem Stein fotografieren. Die Information einer Freundin, dass die Talbewohner auf solchen Steinbrocken Gemüse angebaut hätten, faszinierte sie so sehr und liess sie nicht mehr los. Diese Faszination und Neugierde entwickelte sich zu einem intensiven Forschungsprojekt.

Balóm dla Predascia © Franziska Martin

In einer Broschüre fand Franziska Martin eine Aufnahme von 1885, die einen Felsblock mit einer angelehnten Leiter zeigte. Oben stand jemand, und daneben befand sich eine kleine, kaum sichtbare Figur. Die Bildunterschrift lautete "Giardino Pensile" (dt. hängender Garten). Dank einem Historiker und einem Zeitzeugen erfuhr sie mehr über die Menschen im Bavona-Tal – den Terrieri, die sich selbst als "Erdenbewohner" ("gens de la terre") bezeichneten und deren Dörfer "Terre" genannt wurden.

Bohnen © Franziska Martin

Das Bavona-Tal ist von steilen Felswänden, die von Gletschern geformt wurden, geprägt und ist voller riesiger Felsblöcke. Fruchtbarer Boden war äusserst rar und wurde durch wiederholte Bergstürze und Gerölllawinen weiter dezimiert. Ziergärten gab es nicht. Dies zwang die Terrieri zu grossem Einfallsreichtum. Sie begannen, auf grossen Felsblöcken Gemüsegärten und Wiesen anzulegen, die im Tessiner Dialekt Giarditt (dt. Garten) oder Prato Pensile (dt. hängende Wiese) genannt wurden.

Kartoffel fällt auf Gras, Collage © Franziska Martin

Ab dem 16. Jahrhundert entstanden diese ungewöhnlichen Gärten, teilweise als Felsen nach Naturkatastrophen mit Nutzungsrechten vergeben wurden. Die Terrieri umfassten die Felsen mit Trockenmauern und füllten sie mit Erde auf, um ebene Anbauflächen zu schaffen.

Verdoppelt © Franziska Martin

Diese Giarditt wurden über Generationen hinweg gepflegt und waren Lebensgrundlagen mit individuellen Namen wie "Balóm di Franc" oder "Balóm dla Predascia". Das Bavona-Tal ist der einzige Ort in der Schweiz, an dem diese einzigartige Form der Landwirtschaft praktiziert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg verliessen viele die Gegend, die Tradition wurde nur noch von wenigen bis in die 1970er Jahre fortgesetzt. Viele dieser Hängewiesen sind heute verlassen und verfallen, oft von Wald überwuchert. 2011 erfasste die Fondation Bavona in einem Inventar noch 150 Giarditts, deren Anbauflächen von 2–3 m² bis zu 500 m² und insgesamt etwa 6500 m² umfassten.

Fels und Spargel © Franziska Martin

Franziska Martins tiefgehende Auseinandersetzung mit diesen Steinen und den verborgenen Geschichten, die sie bewahren, ist eine Kombination aus Recherche, dem Sammeln von Fragmenten der Vergangenheit und dem Versuch, die Bilder ihrer inneren Vorstellungskraft lebendig werden zu lassen. Sie sieht in der Geschichte der Terrieri, die durch Mut, Einfallsreichtum und Anpassungsfähigkeit eine Heimat in einer steinigen Welt schufen, ein wichtiges Vermächtnis. Dieses erinnert uns an die Notwendigkeit, sorgsam mit Ressourcen umzugehen und heutigen Herausforderungen mit Resilienz und Demut zu begegnen.

Giarditt in der Nacht © Franziska Martin

Franziska Martin arbeitet als freiberufliche Fotografin mit Fokus auf Reportage und Porträt. Ihre persönlichen Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld von Fotografie und Collage, zwischen Dokumentation und Illusion. Sie befassen sich mit den Themen Zeit und Veränderung sowie mit der Beziehung zwischen Mensch und Umwelt – besonders interessiert sie, wie der Mensch seine Umgebung prägt und zugleich von ihr geprägt wird. Ihre Arbeit ist inspiriert von künstlerischen Ansätzen, die Erzählung, Fiktion und dokumentarische Elemente miteinander verweben und die Grenzen zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit hinterfragen. 

Martin absolvierte ihre Ausbildung an der Akademie der Bildenden Künste München in der Fotoklasse von Armin Linke (2018–2025). Zuvor studierte sie an der F+F Schule für Kunst und Design und erwarb ein CAS in Kulturmanagement an der HSLU Hochschule Luzern. Sie ist seit 2016 als freie Fotografin tätig und Mitglied von SIYU (professionelle fotografie schweiz), dem Pool Collective und der Hard Cover Art Gallery.

Wal Kartoffeln im Weltall © Franziska Martin

Die Ausstellung Extra Terra kann bis 13. November 2025 in der Galerie Strates in Lausanne besucht werden.