IG Halle | Rapperswil
22. November 2020 - 7. Februar 2021
weit
Bernadette Gruber, Gilgi Guggenheim mit Museum of Emptiness, Tom Haller, Gian Häne, Esther Mathis, Ruth Maria Obrist, Dominique Teufen, Hans Thomann
Die neue Ausstellung der IG Halle kommt zum richtigen Zeitpunkt: In einer Situation, die weltweit von Angst, Bedrohung und Einschränkungen geprägt ist, eröffnet die IG Halle am 22. November eine Gruppenausstellung mit dem Thema Weite. Eine politische Ausstellung ist es deswegen nicht – sie wurde vor mehr als einem Jahr konzipiert. Vielmehr nimmt sie aktuell die Funktion der Kunst wahr, den Blick zu erweitern und neue Perspektiven zu öffnen.
Mit der Aktion Selfiepoint hätte die Geschichte bereits im Juni beginnen sollen. Die interaktive Installation der Fotografin Dominique Teufen sollte Teil des Sommerfests auf dem Zeughausareal in Rapperswil sein und die Besucher schon im Voraus spielerisch in die kommende Ausstellung involvieren. Selfiepoint ist die grossformatige Illusion einer Landschaft auf Leinwand, vor der sich Besucher fotografieren können. Während ein Selfie normalerweise als Beweis dafür gilt, dass der Ort existiert und dass man tatsächlich dort war, kehrt sich hier das Verhältnis um: Die Besucher werden Teil der von der Künstlerin geschaffenen Illusion, die somit an Realität gewinnt. Dass diese Reise in die Illusion nicht stattfinden konnte, spiegelt unfreiwillig auch die Situation des Tourismus in diesem Jahr.
Den Selfiepoint wird es in der Ausstellung dennoch geben. Zudem ist das Bild Teil der Serie My travels through the world on my copy machine, für die Dominique Teufen 2019 mit dem Prix HSBC pour la photographie ausgezeichnet wurde. Dieser umfasst neben einer Ausstellung und Ankäufen auch eine Publikation bei Éditions Xavier Barral, Paris.
Highway der Vergänglichkeit
Die Umbrüche in der Reise- und Freizeitindustrie sehen wir auch in den Fotografien von Tom Haller festgehalten, hier allerdings eher in umgekehrter Richtung: Angezogen von den Weiten Nordamerikas, ist der Zürcher Fotograf über viele Jahre hinweg verlassenen Orten, zerfallenden Gebäuden, Freizeitparks und Tankstellen nachgegangen. Dabei hat er auch das Verschwinden der Motel-Kultur dokumentiert, die durch den Flugverkehr mittlerweile weitgehend abgelöst wird. Analog fotografiert, unbearbeitet und mit dem Auge für den perfekten Ausschnitt erfasst, erzählen seine Aufnahmen davon, wie die grenzenlose Weite auf einmal zur Enge einer bedrohten Existenz werden kann. Trotz aller Trostlosigkeit strahlen die Bilder Grösse, Ästhetik und die Kraft zur Transformation aus. Die Serie wurde 2019 bei Scheidegger&Spiess in einem Buch mit dem Titel Nuggets publiziert.
So sind Weite und Leere manchmal nahe bei einander. Dass Leere auch eine positive Erfahrung sein kann, legt die Künstlerin und Kuratorin Gilgi Guggenheim mit ihrem 2016 in St.Gallen gegründeten Museum of Emptiness nahe: Dieses lädt dazu ein, sich auf die Leere einzulassen und mit ihrer Thematik auseinanderzusetzen. Für weit zieht das Museum of Emptiness nach Rapperswil und bringt eine Überraschung mit – und das ist keine leere Versprechung.
Mit Leere, die aus einer Überfülle von Licht entsteht, spielt Bernadette Gruber in ihren Carborundum-Drucken. Überbelichtungen erzeugen Weissflächen, die das Bild an die Grenze zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit führen. Inspiriert von der Schönheit und dem Reichtum der Natur, sucht Bernadette Gruber den Übergang zwischen Materiellem und Immateriellem. Dabei kontrastiert die Leichtigkeit des Eindrucks mit dem aufwändigen Arbeitsprozess des Carborundum-Verfahrens, bei dem Sandkörner das Papier prägen.
Spiegel der Ewigkeit
Faszinierend, wie auch schwere Materie ein Gefühl von Weite und sogar Leichtigkeit auslösen kann: Messing, Kupfer, Gold, Holz, Stoff oder Bitumen – Ruth Maria Obrist schafft damit unter Verwendung geometrischer Grundelemente Objekte, die einerseits Raum umfassen und andererseits als Symbol für Raum dastehen: Leuchttürme beispielsweise. Oder als Potenzial: Der unbekannte Raum heisst eine ihrer Serien. In ihrem Werk scheinen sich Weltraum und innerer Raum oft zu begegnen.
Auch wenn die an Sternenhimmel erinnernden Bilder von Esther Matthis einen Blick ins All vortäuschen – sie bilden ganz gewöhnliche Luft ab. Nämlich aus Mailand, Oleggio, Berlin, Winterthur und Zürich. Die Silbergelatineprints in 1 Year of Atmospheric Exposure zeigen vor schwarzem Hintergrund Staubpartikel in unterschiedlicher Dichte, eingefangen mithilfe von Glasnegativen auf dem Fenstersims. Ernüchtert auf uns selbst zurückgeworfen, finden wir uns dennoch mit der Frage nach der kosmischen Dimension konfrontiert.
Horizonte der Imagination
In ähnlich minimalistischer Weise löst Gian Häne in seinen neuesten Arbeiten ein Gefühl von Raum aus: Die Horizonte sind Ölbilder ohne Farbe. In einem langsamen Prozess sickert Mohn- oder Leinöl ins Büttenpapier. Bekannt für seine japanisch inspirierten Holzschnitt-Objekte lässt Gian Häne mit bewusst reduzierte Kontrolle Landschaften aufscheinen und in der Unschärfe auch wieder verschwinden. Er führt den Betrachter in die Weite der Imagination und von dort wieder zurück auf die Materialität des Bildes.
… und Fluchtwege
Seit 15 Jahren bereits befasst sich Hans Thomann mit der Fluchtfigur. Die weisse Figur im Laufschritt auf grünem Grund ist genauso bekannt wie unbeachtet. Mit Witz und Humor reflektiert Hans Thomann in seinen Notausgangsschildern die Flucht- und Ausweichversuche von Menschen. Ein ganz neues Werk ist ein Mobile, bestehend aus der Fluchtfigur, einem Pfeil und einer Tür. Nicht genug, dass die Elemente dauernd ihre Richtung wechseln – zur kompletten Verwirrung haben sie auch noch eine spiegelnde Seite. Eine Bahnhofuhr ohne Stunden- und Minutenzeiger, dafür mit einem Sekundenzeiger, der Dringlichkeit in der Orientierungslosigkeit suggeriert, vervollständigt diesen Kommentar zur menschlichen Existenz auf besonders aktuelle Art und Weise.
Anlässe: Horizont und Bewusstsein erweitern
Während der Ausstellung ermöglichen mehrere Anlässe, sich auf verschiedenen Ebenen dem Thema zu nähern: Akustisch mit dem Konzert des jungen englischen Connaught Brass Quintett. Oder in einem Gespräch über die künstlerische Freiheit, das einerseits die Sicht und Realität von Kunstschaffenden befragt, und andererseits die Wirkung von Kunst auf die Entwicklung und Entfaltung des Menschen beleuchtet. An einem Filmabend können die Besucher mit Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier um die Welt reisen: Die beiden haben mit ihrem Film «weit» die erfolgreichste Kinodokumentation 2017 in Deutschland geschaffen.
(Judith Annaheim, Guido Baumgartner / IG Halle)