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Ausstellung | Antigone - Tacita Dean | Kunstmuseum Basel


  • Kunstmuseum Basel St. Alben-Graben 16 4051 Basel Schweiz (Karte)

Kunstmuseum Basel
28. August 2021 - 9. Januar 2022

Antigone
Tacita Dean


Antigone, 2018, Tacita Dean © The Artist, Courtesy the artist; Frith Street Gallery, London and Marian Goodman Gallery, New York/Paris

Antigone, 2018, Tacita Dean © The Artist, Courtesy the artist; Frith Street Gallery, London and Marian Goodman Gallery, New York/Paris


Das Kunstmuseum Basel | Gegenwart zeigt die Schweizer Erstaufführung von Antigone (2018), der bisher komplexesten Arbeit von Tacita Dean (geb. 1965). Die Präsentation des einstündigen, anamorphotischen 35mm-Films wird durch weitere Filme, Fotografien, Fotogravuren und Kreidezeichnungen der britisch-europäischen Künstlerin ergänzt.

In Antigone geht es um den Namen Antigone und alles, was in ihm anklingt, nicht nur in der griechischen Literatur der Antike, sondern auch im eigenen Leben der Künstlerin. Antigone ist der Name von Deans älterer Schwester und gehört somit zu den ersten Wörtern, die die Künstlerin gelernt hat. Ebendiesen Namen trägt bekanntlich auch die Heldin in der thebanischen Trilogie des griechischen Tragödiendichters Sophokles, was Dean darauf brachte, ihre eigene Geschichte mit dem mythologischen Kosmos der klassischen Antike zu verflechten.

Stofflich richtet sich Deans literarisches Interesse auf einen von Sophokles dramatisch nicht behandelten Zeitraum zwischen König Ödipus und Ödipus auf Kolonos, in welchem der geblendete, verbannte König Ödipus an der Seite seiner Tochter Antigone durch die Wildnis irrt, bis er schliesslich auf dem Hügel Kolonos einen heiligen Hain vor Athen erreicht. Solche Leerstellen, Nebenschauplätze und Zufälle haben Dean schon immer fasziniert. Ihre ersten noch unausgegorenen Ideen für Antigone reichen ins Jahr 1997 zurück, als sie im Rahmen des Sundance Screenwriting Lab versuchte, ein Drehbuch zu diesem Stoff zu verfassen; die Vollendung des Werks – ihre wohl bisher intimste und rätselhafteste Arbeit – sollte jedoch noch mehr als zwei Jahrzehnte in Anspruch nehmen.

Antigone wurde dank Deans Technik der Blendenmaskierung ausschliesslich mit und im Innern einer 35mm-Kamera auf Film gebannt. Diese Technik ermöglicht es der Künstlerin, mehrere Bilder innerhalb eines einzelnen Filmbildes festzuhalten, wobei Schablonen und Mehrfachbelichtungen zum Einsatz kommen. So entsteht das montierte Filmmaterial, das dem Resultat einer digitalen Nachbearbeitung täuschend ähnlich sieht, tatsächlich in der Kamera selbst. Das heisst: Die von der Künstlerin vor Ort getroffenen Entscheidungen fliessen gleichermassen in den Prozess des Filmemachens ein wie der Zufall. Antigone ist ein durch und durch analoges Werk. Die subtilen Eingriffe in die optische Mechanik der Filmkamera machen es zu einem technisch wie thematisch kühnen Experimentalfilm.

Zentrales Thema von Antigone ist die Blindheit: Die künstlerische Blindheit – Dean lässt sich immer auch von Zufall lenken und räumt Unvorhergesehenem Platz ein. Die technische Blindheit: ihre durch Maskierung und Mehrfachbelichtungen zu verschiedenen Zeiten und an wechselnden Orten entstandenen Bildfindungen konnte sie erst sehen, nachdem das Negativ im Labor entwickelt und gedruckt worden war. Dann die Blindheit von König Ödipus, der sich angesichts seiner unwissentlich begangenen Verbrechen selbst blendete und aus der Stadt Theben verbannte. Und schliesslich die Blindheit der Natur: Inneres Uhrwerk von Antigone ist eine Sonnenfinsternis, die Dean in Wyoming gefilmt hat. In der filmischen Doppelprojektion verweben sich die thematischen Fäden zu einer Dramaturgie, deren Einheit von Ort, Zeit und Handlung wie durch ein Prisma in einen Fächer aus strahlenden Bildern aufgebrochen wird.

Die Künstlerin hat sich im letzten Jahrzehnt der erneuten Verwendung einiger früher, visionärer Techniken des Filmemachens gewidmet, die das Kino, wie wir es kennen, hervorgebracht haben, und liefert mit ihrer Überarbeitung ein starkes Argument für dieses Medium im 21. Jahrhundert. Dieses Bestreben gipfelte 2011 in der monumentalen Installation FILM für die Turbinenhalle der Tate Modern in London. Für ihre Virtuosität im Umgang mit diesen filmischen Verfahren wird sie mitunter von Kritikern als «Heldin des Zelluloids» gefeiert. Gleichzeitig hat Dean eine Bewegung initiiert, die das Bewusstsein für die Besonderheit des analogen Films schärfen soll und sich für dessen Erhalt und weitere Verfügbarkeit einsetzt. Leider ist die Zukunft von 16mm- und 35mm-Filmmaterial nach wie vor gefährdet.

Antigone wird im Kunstmuseum Basel | Gegenwart durch eine kleine Auswahl von Werken Deans ergänzt, die in engem Zusammenhang mit dem Film stehen. Hinzu kommen die grossformatige Kreidezeichnung Chalk Fall (2018) und einige Schieferarbeiten, darunter auch die neuste Zeichnung, Cynthia Teemin (2021) – Cynthia ist ein Vollmond. Der Titel dieses Werks ist einer Zeile des Gedichts Eyes and Tears des metaphysischen Dichters Andrew Marvell entliehen.

Als Fortsetzung der Ausstellung ist eine Gruppe von kurzen 16mm-Filmen zu sehen, die zum ersten Mal gemeinsam gezeigt werden. Ear on a Worm (2017) etwa entstand in Anlehnung an Leonard Cohens Song Bird on a Wire. Auf der Fahrt durch Los Angeles stimmte die Künstlerin angesichts der Vögel auf den zahllosen, kreuz und quer durch die Stadt gespannten Telegrafendrähten gern die Anfangszeilen dieses Liedes an. Die Herausforderung für Dean bestand darin, einen Vogel während der gesamten Lieddauer von 3 Minuten und 28 Sekunden auf Film festzuhalten. In A Cloud Makes Itself (2020) ist zu beobachten, wie sich eine Wolke im tiefen Blau des Himmels über L.A. bildet und wieder auflöst, und Providence (2018) ist ein stilles Duett zwischen dem Schauspieler David Warner und Kolibris. Erstmals zu sehen ist auch eine neue Serie handgezeichneter Lithografien mit dem Titel LA Magic Hour (2019–2021), die in Zusammenarbeit mit dem Druckverlag Gemini GEL entstanden ist.

Antigone ist, wie viele andere Werke der Künstlerin, Teil der Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung. Mit seiner Laufzeit von genau einer Stunde wird das Werk als fortlaufende Projektion präsentiert, die so synchronisiert ist, dass der Film zu jeder vollen Stunde neu beginnt. Um den emotionalen Verlauf des Films wirklich zu verstehen, empfiehlt es sich, den Film von Anfang bis Ende zu schauen.


Avec Antigone (2018), le Kunstmuseum Basel | Gegenwart présente, pour la première fois en Suisse, l’œuvre la plus récente et la plus complexe de Tacita Dean. Cette épopée d’une heure exprime l’aptitude de l’artiste britannique-européenne à entremêler subtilement figures mythologiques, histoire personnelle et événements fortuits. Le film analogique constitue le matériau qu’elle tient en estime en raison de ses multiples possibilités de traitement, son aspect brillant et son grain. Cependant, elle maîtrise également à la perfection d’autres techniques comme la photographie, la gravure, le dessin et l’écriture.

Depuis plusieurs décennies, l’idée d’Antigone occupe l’esprit de l’artiste : Antigone est le prénom de sa sœur aînée, mais aussi celui de l’héroïne tragique de la pièce éponyme du dramaturge grec Sophocle. Depuis sa première rencontre avec la matière littéraire, Dean ne cesse de s’interroger sur ce qui survint dans le laps de temps où Œdipe, roi aveugle, erre dans la région déserte aux côtés de sa fille et de sa sœur Antigone.

L’aveuglement constitue le thème central d’Antigone : l’aveuglement artistique – Dean se laisse aussi toujours guider par le hasard et accorde une place à l’imprévisible. L’aveuglement technique : la méthode de masquer le négatif et de l’exposer à plusieurs reprises en termes de temps et de lieu impliquait qu’elle ne voyait sa composition que après le développement de la pellicule dans le labo. Puis l’aveuglement du roi Œdipe qui se crève les yeux en raison du crime qu’il a commis à son insu et qui est banni de la ville de Thèbes. Enfin, l’aveuglement de la nature : une éclipse solaire filmée par Dean au Wyoming constitue le mouvement intérieur d’Antigone. Au cours de cette double projection filmique, les fils thématiques tissent une dramaturgie dont l’unité de lieu, de temps et d’action se fragmente comme à travers un prisme dans un éventail d’images éclatantes.


Kunstmuseum Basel | Gegenwart hosts the Swiss premiere of Antigone (2018), Tacita Dean’s (b. 1965) most complex work to date. The presentation of the hourlong, anamorphic 35mm film is contextualized by other films, photographs, photogravures, and chalk drawings of the British-European artist.

Antigone revolves around the name ‘Antigone’ and how it resonates, not only in Greek literary history, but also in the artist’s own life. Antigone is the name of Dean’s older sister so was one of the first words the artist ever learnt. ‘Antigone’ is also the eponymous heroine in the Theban trilogy of plays by the Greek tragedian Sophocles, which led Dean to intertwine her own story with the mythological cosmic order of classical antiquity.

The central concern in Antigone is blindness: the artist’s own willed blindness—Dean always gives accident a role in the genesis of her work and leaves room for unexpected developments; technical invisibility—her masking and multiple exposure of the negative at different times and in different places meant she would not see her composition until after it was printed in the lab; the unseeingness of King Oedipus, who, confronted with the outrages he had unwittingly committed, pierced his own eyes and banished himself from Thebes; and, finally, the blindness of nature: the mainspring that propels Antigone’s rhythm and structure is a solar eclipse that Dean shot in Wyoming. The double projection intertwines these thematic threads in a dramaturgy whose unities of place, time, and action are prismatically fractured, yielding a panoply of radiant images.

The artist has dedicated herself in the last decade to reusing some of the early visionary techniques of filmmaking that created cinema as we know it and reworking them as a powerful argument for the medium in the 21st century, a pursuit that culminated in the monumental installation FILM in the Turbine Hall at London’s Tate Modern in 2011. Her extraordinary command of these practices has led critics to hail her as a “Celluloid Hero.” At the same time, Dean has initiated a movement to raise awareness of the special nature of analogue film and to campaign for its preservation and continued availability. Sadly, the future of 16mm and 35mm film material is continually under threat.

The screening of Antigone is complemented by a small collection of works by Dean that closely relate to this film, as well as a recent large-scale blackboard drawing, Chalk Fall (2018) and slate works, which include a recent drawing, Cynthia Teeming—Cynthia being a full moon—taken from a line in Metaphysical poet Andrew Marvell’s poem, Eyes and Tears.

The exhibition continues with an installation of a group of short 16mm films shown together for the first time: Ear on a Worm (2017) was made in relation to Leonard Cohen’s song Bird on a Wire. Driving around Los Angeles, Dean often started to incant the song’s opening lines when seeing birds sitting on the multitude of telegraph wires that straddle the city. The challenge was to film a bird for the full 3 minutes and 28 seconds length of the song. A Cloud makes itself (2020) watches a cloud form and un-form in the deep azure of an LA sky and Providence (2018) is a silent duet between actor David Warner and hummingbirds. And showing for the first time is a new series of hand-drawn lithographs called LA Magic Hour (2019-2021) produced with print publishers Gemini GEL.

Like many other works by the artist, Antigone is in the collection of the Emanuel Hoffmann Foundation. With a running time of exactly one hour, the work is presented as a continuous projection, synchronized so that the film will automatically restart every hour. It is advised in order to fully appreciate the emotional trajectory of the film that it should be watched from beginning to end.

(Text: Kunstmuseum, Basel)