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Ausstellung | Anzeichen der Verlässlichkeit - Beat Schweizer | Coalmine - Forum für Dokumentarfotografie | Winterthur


  • Coalmine - Dokumentarfotografie Turnerstrasse 1 8401 Winterthur Schweiz (Karte)

Coalmine - Forum für Dokumentarfotografie | Winterthur
19. Oktober - 21. Dezember 2018

Anzeichen der Verlässlichkeit
Beat Schweizer


Teriberka | Russland | März 2012

Teriberka | Russland | März 2012

Wie lebt es sich in den polarnahsten Städten und Siedlungen der Welt? Und was hält die Menschen trotz scheinbar widriger Bedingungen dort? Die Thematik der Isolation beschäftigt Beat Schweizer (geboren 1982, wohnhaft in Bern) seit vielen Jahren. Auf mehreren Reisen in den äussersten Norden Russlands hat er die Morphologie abgelegener Orte fotografisch festgehalten, die Ursachen ihres Daseins und ihre Eigenheiten untersucht. Sein Langzeitprojekt präsentiert uns Formen der Existenz, die über das Anekdotische hinaus tiefe Einblicke in das Menschliche geben. In seiner dokumentarischen Praxis nähert er sich den Strukturen und Bewohnern behutsam und unmerklich. Mit seinem systematischen Blick fördert er im Einzelnen das Allgemeine und im Allgemeinen das Individuelle zutage, beweist aber auch ein waches Auge für Komik, Tragik und Absurdität – ein feines Sensorium für die "Anomalie des Alltags im nördlichsten Norden Sibiriens" (so der Untertitel der Eigenpublikationen "An der Frostgrenze", 2013). Die COALMINE zeigt Beat Schweizers dreiteiligen Werkzyklus, entstanden zwischen 2012 und 2018, erstmals umfassend und als neu edierte und produzierte Abzüge. 

Norilsk ("Michailovna hat angerufen", 2017/18)
Norilsk ist eine Stadt der Superlative: Sie ist die nördlichste Grossstadt weltweit, gelegen auf 69 Grad nördlicher Breite und gebaut auf Permafrost-Boden. Sie gilt auch als die schmutzigste Stadt der Welt. Die dort abgebauten Nickelerze verursachen Schäden an Umwelt und Gesundheit. Zusammen mit den Vorkommen auf der russischen Halbinsel Kola deckt Norilsk rund einen Viertel des Weltmarktbedarfs an diesem Rohstoff, der in diversen Legierungen und vor allem zur Erzeugung von nichtrostendem, hochbelastbarem Stahl verwendet wird. Bodenschätze und Industrie bieten mit ihren gut bezahlten Arbeitsplätzen und einer städtischen Infrastruktur, die dem polaren Klima Annehmlichkeiten abtrotzt, Lebensraum für 175'000 Menschen. Gleichwohl wahrt die als Minenstadt 1935 gegründete und unter Stalin als Gulag genutzte Stadt weiterhin ihr Geheimnis: Sie ist für Ausländer geschlossen und nur mit einer Sonderbewilligung betretbar.

Eine solche erlaubte es Beat Schweizer, sich frei in der Stadt zu bewegen. Dennoch stellte eine Bekannte, eine ehemalige Polizistin bei der Flughafenpolizei, vorab mit einem Anruf sicher, dass sich die Einreise ohne Umtriebe vollzog ("Michailovna hat angerufen") – eine Anekdote, die zeigt: wo alles bürokratisch abläuft, vieles unmöglich scheint und doch alles möglich ist, sind die persönlichen Beziehungen entscheidend. Mit seiner Mittelformatkamera hat Beat Schweizer in sorgfältig komponierten Einstellungen Häuserzüge, Plätze und Naherholungsgebiete in Norilsk fotografiert. Porträts und Innenansichten führen das Spiel mit Distanz und Nähe fort und zeigen die Bewohner bei der Freizeitgestaltung, Gedenktagen oder Schönheitswettbewerben. Es entsteht das Bild eines auf sich bezogenen und sich selbst genügenden Kosmos, der seine Existenz jedoch auswärtigen Interessen verdankt und ohne Anreize und Garantien aus Moskau nicht fortbestehen könnte. Es sind solche Abhängigkeiten und ihre fragile, fragliche und fragwürdige Beständigkeit, denen der Fotograf nachspürt. Darauf bezieht sich auch der Titel der Ausstellung in der COALMINE: "Anzeichen der Verlässlichkeit". 

Dikson ("An der Frostgrenze", 2013)
Während Norilsk den Anschein urbaner Normalität wahrt, trifft dies auf Dikson, eine kleine Siedlung an der Mündung des Jenissei, auf über 73 Grad nördlicher Breite, nicht zu. Der Aussenposten der Zivilisation, der einen Eisbären im Wappen trägt und an 82 Tagen in der Polarnacht versinkt, galt in der Sowjetzeit als die nördlichste Stadt weltweit. Dann sank ihre Einwohnerzahl drastisch. Einst Angelpunkt für die Nordostpassage und die Kontrolle über die Arktisregion sowie Ausgangspunkt vieler Polarexpeditionen, bietet Dikson heute nur noch wenigen hundert Menschen ein Auskommen. Die Einwohner sehen sich überwiegend auf sich allein gestellt, die Provinzhauptstadt Krasnojarsk liegt 2507 Kilometer entfernt. Besucher, auch russische, benötigen generell eine Sondererlaubnis. Die verbliebenen Bewohner, die Beat Schweizer dort aufsucht hat, leben entweder als Mechaniker oder Grenzschützer, betreiben einen Einkaufsladen oder übermitteln Wetterdaten nach Moskau. Ermöglicht wird ihre Existenz durch den Staat, angeblich im Bestreben, die nördliche Aussengrenze des Mutterlands zu sichern. Wir begleiten sie bei der Arbeit oder dabei, wie sie ihre Frei- und Wartezeit verbringen, mit Jagen und Fischen, Grillen, Spielen oder Fernsehen. 

Teriberka ("Der Boiler", 2012)
Auch Teriberka, die dritte Ansiedlung, die Beat Schweizer im Rahmen seines epischen Langzeitprojekts besuchte, gelegen auf 69 Grad Nord, leidet seit dem Niedergang der Küstenfischerei unter starkem Bevölkerungsrückgang. Vor einigen Jahren jedoch kündigte der russische Konzern Gazprom riesige Investitionen mit Tausenden von Arbeitsplätzen an. Das Stockmann-Feld in der Barentsee, ein Gasvorkommen, sollte erschlossen werden. Ein Teil der Einwohner machte sich Sorgen um die Umwelt, viele andere freuten sich auf eine rosige Zukunft. Doch das Projekt wurde auf Eis gelegt, aus Kostengründen – der Schiefergasboom in den USA machte die Gasförderung in der Arktis nicht mehr konkurrenzfähig. So kämpfen die Bewohner von Teriberka weiterhin gegen das Vergessenwerden an. Wie auch andernorts führt uns Beat Schweizer mit ausgewählten Protagonisten in ihre Lebenswelt ein. So besteht die Aufgabe des Dorfheizers darin, Steinkohle in den Schlund eines Ofens zu schaufeln und das Dorf mit Wärme zu versorgen, während er seine Lebenslast und Langeweile in Schwermut und russischen Fernsehserien ertränkt. 

Beat Schweizers dreiteilige Dokumentation ist eine warmherzige Bestandsaufnahme besonderer Lebensumstände und ihrer Bewältigung. Sie registriert das Wesenhafte mit einer Nüchternheit, die immer wieder ins Poetische oder gar Fantastische mündet. Entgegen einem meist von westlichen Vorurteilen durchsetzten Blick zeichnet er ein vielschichtiges Bild der Auswirkungen von klimatischen, politischen und ökonomischen Kräften auf den postkommunistischen Raum. Auf seinen Reisen arbeitet er oft mit dem Schweizer Schriftsteller Urs Mannhart an selbstpublizierten Reportagen. Der bewusste Umgang beider Autoren mit Bild und Text und das Experimentieren mit unterschiedlichen Publikationsformen markiert eine eigenständige Positionierung im Feld einer erweiterten und selbstreflexiven dokumentarischen Praxis. 

Der Ausstellungstitel "Anzeichen der Verlässlichkeit" ist inspiriert vom Slogan "Символ надежности" ("Symbol der Verlässlichkeit"), mit dem Nornickel, der grösste Arbeitgeber in Norilsk, auf Plakaten wirbt. Die Menschen in Norilsk, aber auch in Teriberka und Dikson, verlassen sich auf das Versprechen von Staat und Arbeitgebern, dass ein Leben an diesen widrigen Orten weiterhin möglich bleibt. Die Kehrseite der Verlässlichkeit ist die Angst, keine Arbeit zu finden, sollten sie an einen anderen, südlicheren Ort ziehen wollen. Sie sind in diesem Versprechen der Verlässlichkeit gefangen. So hat der Titel durchaus eine Ambivalenz.

(Text: Sascha Renner)