Foto-Auge – eine kleine Hommage…
Sakuranezumi, Japan, Serie 2015 – 2018 | © Yoshiko Kusano

Sakuranezumi, Japan, Serie 2015 – 2018 | © Yoshiko Kusano

Klappentext: Wie die Fotografie in die Welt gekommen ist und was die Menschen mit ihr gemacht haben. Zwischen 2009–2020 spannte Bernhard Giger in seinen Ausstellungen im Kornhausforum Bern einen Bogen von den Anfängen der Berner Fotografie-Geschichte bis zu den aktuellen Grenzgängen zwischen Dokumentarismus und Kunst.

Rheinfahrt-Schiffer an Land, Deutschland, frühe 1960er-Jahre | Staatsarchiv des Kantons Bern | © Albert Winkler

Rheinfahrt-Schiffer an Land, Deutschland, frühe 1960er-Jahre | Staatsarchiv des Kantons Bern | © Albert Winkler

"Bernhard Giger – Referate über Fotografie 2009 – 2020" erscheint als Band # 10 der Publikationsreihe des Kornhausforum Bern und bietet nicht nur einen spannenden Einblick über vergangene Ausstellungen im Kornhausforum, sondern auch in die dazugehörigen Referate von Bernhard Giger. Der eine oder die andere wird sich beim Lesen der Referate an die Ausstellungen erinnern und sieht die Bilder vor dem inneren Auge, fragt sich vielleicht was der Fotograf oder die Fotografin heute macht…

Nilkanal mit Baumwollschiff, Alexandria, 1898 | Sammlung Tobler | © Augusta Flückiger

Nilkanal mit Baumwollschiff, Alexandria, 1898 | Sammlung Tobler | © Augusta Flückiger

Im Vorwort beschreibt Christoph Reichenau den Werdegang Bernhard Gigers im Kornhausforum und welchen Stellenwert die Fotografie in Bern heute hat.  

[…] Er hinterlässt eine Erinnerung, dass die wenig aufwändige, alles in allem "billige" Kunst der Fotografie keine billige Kunst ist, sondern eine, die höchsten Ansprüche stellt an die Komposition, den Augenblick des Auslösers, den Blick des Suchenden hinter der Kamera. 

Er hinterlässt ein Bewusstsein, dass fotografische Bilder populär sind, Kunst mit niedriger Zugangsschwelle, demokratische Kunst, in der jede und jeder auf einer Fotografie etwas erkennt und dem Bild dadurch Bedeutung verleiht. 

Er hinterlässt uns Kriterien dafür, was eine bessere Fotografie von einer schlechteren unterscheidet. Und dies, ohne in Zweifel zu ziehen, dass heute – und sei es mit dem Handy – jede und jeder selber fotografieren kann; eben: besser oder schlechter. Fotografieren als Teilhabe – hier hat das modisch gewordene Wort für einmal seine Berechtigung – an einer Kunst oder doch als Versuch, sich ihr praktisch anzunähern. […]

Bamako, 2009 | © Annette Boutellier

Bamako, 2009 | © Annette Boutellier

Konrad Tobler schreibt im Nachwort über Gigers Foto-Auge und schenkt ihm damit eine kleine Hommage: […] Das Foto-Auge also ist der genaue und neugierige Blick für Sujets, Augenblicke, Kompositionen, Licht- und Schattenspiele, Bewegungen im fotografischen Stillstand, Dramaturgien, Blickwinkel. Der genaue Blick: Das ist schliesslich die Fähigkeit des enthusiastischen, sprachbewussten und -kritischen Journalisten Giger, das Gesehene zu vermitteln, in Ausstellungen, in Einführungen, in leicht verständlichen, geschliffenen Bildlegenden, die den Blick der Betrachtenden behutsam in das Bild (ver-)führen.

Gigers Foto-Auge ist nun in der vorliegenden Publikation aufs Schönste dokumentiert. Dieses Foto-Auge hat, so wage ich zu behaupten, ganz bescheiden kleine und wichtige Kapitel der Fotogeschichte geschrieben. […]

Krönungsfeier für Hassan II. von Marokko, Marrakesch, 1961 | Stiftung Werner Schwarz | © Werner Schwarz

Krönungsfeier für Hassan II. von Marokko, Marrakesch, 1961 | Stiftung Werner Schwarz | © Werner Schwarz

Bernhard Giger (*1952) ist in Bern geboren, nach einer Fotografenlehre bei Albert Winkler war er Programmmitarbeiter des Berner Kellerkinos, Film- und Fernsehkritiker und ab 1979 Redaktor zuerst siebzehn Jahre beim "Bund" und danach zehn Jahre bei der "Berner Zeitung" in den Bereichen Medien, Kultur und Stadtpolitik. Seit 1981 realisierte er Spielfilme für Kino und Fernsehen, unter anderen "Winterstadt" (1981), "Der Gemeindepräsident" (1984), "Tage des Zweifels" (1991), "Oeschenen" (2004) und mehrere Dokumentarfilme. Von 2009 – 2020 war er Leiter des Kornhausforums Bern. 

Christoph Reichenau war 2007 – 2016 Präsident des Kornhausforum Bern. Von 2012 – 2014 war er Vorstandspräsident von Kulturvermittlung Schweiz.

Konrad Tobler (*1956) studierte Germanistik und Philosophie in Bern und Berlin. Seit 2007 ist er als freier Autor, Kulturjournalist, Kunst- und Architekturkritiker tätig. 2006 wurde er mit dem Preis für Kulturvermittlung des Kantons Bern ausgezeichnet. 

Der Verlag edition clandestin wurde 1989 von Judith Luks gegründet. Im Zentrum der Publikationstätigkeit des in Biel/Bienne, Schweiz, domizilierten Verlages stehen Kunstbücher, bibliophile Vorzugsausgaben und Kunstblätter. Vermehrt werden auch belletristische Werke in Kombination mit Fotos, Zeichnungen und Illustrationen ins Programm aufgenommen, Richtung Graphic Novel. edition clandestin ist Mitglied vom SBVV und von SWIPS (Swiss Independent Publishers), der Plattform der unabhängigen Schweizer Verlage. 

"Bernhard Giger - Referate über Fotografie 2009 – 2020" (ISBN 978-3-907262-15-3) kann direkt bei edition clandestin oder im Buchhandel bezogen werden.

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Ballermann 5 Uhr 30...
© Stefan Flach

© Stefan Flach

Die Strände menschenleer. Die Fenster verrammelt. Einsame Drängelgitter vor Lokalen. Es gibt vielleicht keinen merkwürdigeren Zeitpunkt für einen ersten Besuch am Ballermann als den Sommer 2020. Hochsaison, normalerweise Hochbetrieb. Tausende Menschen, die zusammen feiern wollen. Eine Gemeinschaft im dionysischen Ausnahmezustand – vereint in Schlager, Sangria und Sonnenbrand. Man kennt diese Bilder: Es ist irgendwas zwischen Karneval und einem liturgischen Ritual, das aus dem Ruder gelaufen ist…

Stefan Flach

© Stefan Flach

© Stefan Flach

Das hatten wir noch nie – an den Stränden wird Spanisch gesprochen.

Ilka und Jörg, Auswanderer 

Ausgerechnet im Juli 2020 besucht Stefan Flach zum ersten Mal den Ballermann® auf Mallorca. Eigentlich wäre Hochsaison und man würde früh morgens die letzten Partygäste auf dem Weg ins Hotel antreffen, mittags die von der Sonne krebsrotgefärbten und braungebrannten Touristen am Stand liegen sehen und nachmittags die lachenden und für den Abend Pläne schmiedenden, leicht angesäuselten Jungs und Mädels an den Standbars hören. Nicht so im Sommer 2020… 

Der Strand ist menschenleer und die Bars, Clubs und Kneipen sind verriegelt…

© Stefan Flach

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Ausfallerscheinungen
Wenn ich sage, ich trinke ja auch ein Bier, wir trinken ja auch was, man ist dann lockerer. Der Alkohol enthemmt natürlich bis zu einer gewissen Grenze. Ich will mal sagen, die meisten Leute, achtzig Prozent, die wissen auch mit dem Alkohol umzugehen. Dass es natürlich Ausfälle gibt, das ist ganz normal. Das ist aber ein gesellschaftliches Problem. Aber der Alkohol gehört einfach dazu, wie Musik.

André Engelhardt im Gespräch mit Sacha Szabo

"Ballermann 5 Uhr 30" zeigt leere Bars, Clubs und Strandabschnitte – neue Lost Places… Corona hat vieles verändert, die Massnahmen dagegen haben die Tourismusbranche hart getroffen und vielen den Boden unter den Füssen weggezogen.

Vielleicht macht diese Situation ein Umdenken möglich und Mallorca wird wieder mallorquinischer…

© Stefan Flach

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Erinnerungslücken
[…] Die Thekentruppe brachte im Handgepäck die Kölsch-Fässer und die Tuppertöpfe voller Gulasch mit, weil sie der spanischen Grundverpflegung zutiefst misstraute. […] Treffpunkt der Truppe wird über die Jahre nach und nach der Balneario 6 am Strand, ein Badehäuschen, ursprünglich eine Umkleidekabine, wo auch für wenige Peseten Bier ausgeschenkt wird. Da der Merowinger sich gern einen "ballert" und danach Schwierigkeiten hat, das Wort "Balneario" auszusprechen, wird daraus Ballermann. "Irgendwann gegen Ende der 70er-Jahre muss das gewesen sein", sagt Ingo Wohlfeil, "leider können sich die Beteiligten nicht mehr genau erinnern."

Ciro Krauthausen, Mallorca Zeitung

In "Ballermann 5 Uhr 30" kommt auch André Engelhardt der Erfinder des Ballermanns zu Wort: [...] Ballermann findet im Grunde genommen nach wie vor in den Herzen und in der Vorstellung der Menschen statt. Ich muss den Leuten nur einen Ort geben, wo das stattfindet. Dann funktioniert das weiterhin. Man feiert sich selbst.

© Stefan Flach

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Es ist überall so wie bei uns

Die Ausbreitung der Zivilisation über die Welt bedeutet: Nivellierung alles Fremden, Unerwarteten, Anfüllung mit Bekanntheitscharakteren. Es ist überall so wie bei uns, stellt der enttäuschte Tourist fest.

Fernando Pessoa[1] aus "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares"

 

Stefan Flach hat nicht nur verlassene und verriegelte Orte vor die Linse genommen, sondern auch verschiedene Protagonisten*innen zu Wort kommen lassen; den Erfinder des Ballermanns André Engelhardt, die Die Welt Journalistin Marion Müller-Roth oder die mallorquinische Angestellte im Tourismusbereich Natalia Docolomansky. Es sind Worte, die einen nachdenklich stimmen oder ein Kopfschütteln bewirken.

© Stefan Flach

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Deutsche Küche ist hier überall vertreten
Fast an jeder Ecke wird hier von deutschen Imbissbuden, Kneipen und Biergärten mit Bauernfrühstück, Curry-, Bock-, Weiss- und Bratwurst, Schaschlik, Schweinshaxe, Schnitzel, Zigeunersteak, Brezeln, Kölsch, Pils und Veltins teutonische Lebensart vermittelt.

Markus Mross, reiseinformationenweb.org

Stefan Flach (*1966) ist in Köln geboren, wo er heute lebt und arbeitet. Nach dem Besuch der Berufsgrundschule für Druck und Papier, der Fachoberschule für Gestaltung und des Zivildienstes im Bereich der Altenpflege erlangte er ein Diplom in Grafik Design an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Seit 2002 leitet er das Design Büro filter design und ist freischaffender Grafik Designer.

© Stefan Flach

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André Engelhardt, Inhaber der Marken Ballermann® und Ballermann6® beschreibt begeistert in seiner Einleitung, den Ballermann nicht wie gewohnt als Ort zu sehen, sondern als Gefühl einer verbundenen Feier-Gemeinschaft von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Stand. Hier feiert der Bänker mit der Putzfrau, der Schalke Fan mit der Zahnärztin aus Hamburg. 

Sacha Szabo (*1969) ist in Freiburg geboren und lebt heute in Merzhausen. Nach dem Besuch der Waldorfschule in Freiburg studierte er Soziologie, Germanistik und Philosophie. Danach erlangte er ein Diplom in Kulturmanagement und absolvierte eine Zusatzausbildung zum Erlebnispädagogen. Seit 2002 arbeitet er im Institut für Theoriekultur. 

2019 wurde der Weissmann Verlag von Michael Weissmann, Peter Rosenthal und Stefan Flach gegründet, um eigene Buchprojekte zu realisieren. Die Themen wandern im Spektrum urbaner Poesie, künstlerische Gegenwartserfassung und fatalistischer Fotografie.

Das Buch "Ballermann 5 Uhr 30" (ISBN 978-3-949168-00-0) kann direkt beim Weissmann Verlag oder im Buchhandel bezogen werden.

[1] Fernando Pessoa (1888-1935), ist nicht nur der Begründer der modernen Dichtung Portugals, sondern eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt. Er schuf Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, und Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme. Er gab seinem vielfältig gespaltenen Ich die Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos und eben Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie "Person, Maske, Fiktion, Niemand" bedeutet. (Perlentaucher.de)

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Das Flüstern der Dinge...
© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

Es ist ein wunderbares Gefühl, einfach in die Hosentasche greifen zu können und ein Bild zu machen, mir ein Bild zu machen – nicht mit dem Blick des Fotografen, sondern mit meinem Alltagsblick, aber immer wachsam den Impulsen meines Herzens folgend, des Körpers, der Augen. Schauen, fotografieren, schreiben und wieder schauen. Dabei verändert sich auf rätselhafte Weise alles, was ich ansehe, denn was ich fotografiere, wird zu etwas anderem. Es ist zuweilen wie im Traum, wo sich die Dinge ohne Übergang vom einen zum anderen wandeln: Wo ich hinsehe, verändert sich die Welt. 

Hätte ich doch früher gewusst, wie leicht es ist, die Welt zu verändern, wenn man fotografiert!

Thomas Krempke

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

10. März. Das Fotografieren hilft gegen die Angst vor der unbekannten Stadt. Zufällig erhaschte Bilder, eine Ampel, eine Auslage mit Hochzeitskleid, ein roter VW-Käfer mit Palme, als ich am ersten Tag auf den Bus warte. Aus solchen Bildern setzt sich mein Guadalajara zusammen, sie gehören jetzt mir, ich habe sie mir angeeignet.

© Thomas Krempke

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15. April. Sechs Uhr morgens, Damaskus. vom Balkon des Hotelzimmers ein erster Blick auf die Stadt. 

"Das Flüstern der Dinge" ist ein kleiner Einblick in das fotografische Tagebuch des Fotografen und Filmemachers Thomas Krempke, das zwischen 2008 und 2016 entstanden ist. Das über 600 seitige Tagebuch eines eigentlich Fremden öffnet einem die Augen für die kleinen, scheinbar unwesentlichen Dinge - auf einmal werden sie ganz gross…

© Thomas Krempke

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Manchmal wünsche ich mir einfach, es geschehe etwas.

Stillstand wiederholt sich immer wieder – auch im Leben. Selten wird das Nichtweiterkommen so klar erkannt und dokumentiert, insbesondere wenn es die eigene Situation betrifft. In Momenten, in den nichts geschieht, läuft immer ein innerer Film ab, sei es ein zu sich kommen, Pläne schmieden oder einfach Pause machen…

© Thomas Krempke

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3. Juli. Meine Mutter zieht aufs Land. Ob das eine gute Idee ist? Beim Ausmisten ihrer Wohnung ist eine Krokodilledertasche aus den Sechzigerjahren zum Vorschein gekommen. Damals was das der letzte Schrei, heute ist sie verboten, denn Krokodile gehören zu den bedrohten Tierarten. Ein sinnvolles Verbot, eines mehr allerdings, aber eben sinnvoll, denn wer will schon den letzten Schrei der Krokodile hören? Und deshalb steht die Tasche jetzt beim Antiquitätenhändler und wartet auf einen Käufer, der sich um die Schreie der Krokodile futiert. Heute ist die Tasche ein Erinnerungsstück. Ich habe sie fotografiert, habe die Erinnerung verewigt, und für einen Moment schien mir, als ob die Zeit still stünde. Krokodile sind sehr alte Lebewesen, sie haben schon Millionen Jahre vor den Menschen existiert. Damals gab es noch keine Fotoapparate – schade eigentlich.

© Thomas Krempke

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23. März. Überall ein bisschen Mensch im Bild, ohne dass jemand zu sehen wäre. Meine Welt ist eine ordentliche, die einzige Unordnung, die hierzulande herrscht, ist die in den Menschen.

© Thomas Krempke

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23. April. Ein Bügelbrett vor einem Kino. Praktisch. Man stelle sich vor, man komme ganz zerknittert aus einem schlechten Film.

© Thomas Krempke

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26. Juni. Aufnahme, was für ein Wort! Ich nehme auf, ich klaube zusammen… Aufnehmen heisst auch, sich etwas einverleiben, Nahrung aufnehmen, nehmen, wegnehmen, klauen, stehlen. Aufnehme! Prise de vue! Prendre oder to take, immer kommt dasselbe zum Vorschein, Fotografie ist eng mit dem Sachverhalt des Diebstahls verbunden. Ich klaue Situationen, Momente und Ausschnitte, setze sie zusammen und versuche, daraus mein Weltbild zu konstruieren. 

Welche Anmassung und Vermessenheit! Fotografie ist Plagiat, Raub, Aneigung fremden Eigentums oder Diebstahl, bestenfalls Vortäuschung falscher Tatsachen. 

Fotografie müsste bestraft werden!

© Thomas Krempke

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20. August. Letzter Abend. Die Hitze ist vorbei. Ich nähere mich dem Alltag. Fast tausend Fotos habe ich in den letzten drei Wochen gemacht. Ein kleiner privater Irrsinn.

© Thomas Krempke

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8. Mai. Eine Säule in Stockholm. Aus purer Langeweile habe ich sie lange angestarrt und im Spiel des Lichts beobachtet. Ein Abendanlass mit Menschen, die ich nicht kenne, und keine Lust, jemandem anzusprechen oder kennenzulernen. Manchmal werden unerwartete Dinge für uns wichtig, zum Beispiel eine Säule. 

Wie oft haben wir das selbst schon erlebt – keine Lust auf Small Talk und bitte keine neuen Menschen kennen lernen müssen, aber doch da sein zu müssen. In solchen Momenten macht es Sinn, sich auf unwesentliche Dinge zu fokussieren und sich dadurch überraschen zu lassen.

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

10. Juli. In der letzten Nacht ein Traum: Ich fliege nach Syrien. Schon bald merke ich, dass das Flugzeug nicht fliegt, sondern auf der Strasse fährt. Es gelingt mir, auszusteigen. Ich versuche herauszufinden, wo ich bin und wie man nach Damaskus kommt. Ich merke, dass ich meinen Pass vergessen habe, und weiss nicht, wie ich ohne ihn weiterreisen kann. 

Früher war man der Ansicht, Fotos bildeten die Wahrheit ab, heute glaubt man eher, sie würden immer lügen. Beides ist falsch.

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

28. Februar. Schon vier Wochen war ich krank dieses Jahr. Angefangen hat es, als ich dieses Bild aus dem Hotelzimmer in Solothurn gemacht habe. Reduzierte Bildwelt

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

Im Epilog von Daniel Blochwitz liest man: "Manchmal erhält man im Leben die Chance, etwas über sich selbst durch die Erzählung eines Anderen zu erfahren. Und das, obwohl man in dessen Geschichte gar keine Rolle spielt. Man ist eigentlich nur stiller Beobachter, Zuhörer, Leser, Betrachter. Und nichts ahnend, fühlt man plötzlich sein Inneres nach aussen gekehrt. Ein Déjà-vu ohne eigenes Vorspiel. Man nimmt etwas wahr, ohne völlig zu verstehen. Eigene Erinnerungen und Erfahrungen erwidern den Blick…"

Wenn man das Tagebuch durchblättert und liest erlebt man genau dies. Man findet sich im Alltag eines anderen, und doch ist es oft der eigene. Vielleicht bringt es einen dazu die Tage achtsamer zu erleben, die Augen auch für kleine Dinge offen zu haben…

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

30. August. Tagebuch schreiben, das ist ja noch nachvollziehbar, aber es wieder lesen… Der Eingang zu unserer Wohnung, noch nie zuvor fotografiert: langsames Einkreisen des eigenen Lebensraums. 

Thomas Krempke (*1957, Zermatt) lebt in Zürich. Er besuchte von 1979 bis 1983 die Fotoklasse an der heutigen Zürcher Hochschule der Künste und hat zahlreiche Filme ("da & dort", Dokumentarfilm, "Kleine grosse Tagträume", Kurzfilm, "Keine Zeiten sich auszuruhen", Dokumentarfilm, "Züri brännt", Experimenteller Dokumentarfilm) realisiert. Er arbeitete auch als Kameramann für Kinofilme und als Kurator an Filmfestivals (FIFF- Festival). Heute arbeitet er als Berater in einer Produktionsfirma, aber in erster Line als Fotograf an seinen Projekten. Seine Arbeiten wurden bereits mehrfach in Einzel- und Gruppenausstellungen (Galerie Stephan Witschi, Zürich, espace Jörg Brockmann, Genève, Galeria Cons Arc, Chiasso) präsentiert.

© Thomas Krempke

© Thomas Krempke

Die Edition Patrick Frey hat seit ihrer Gründung 1986 mehr als 300 Bücher veröffentlicht. Der Verlag arbeitet in engen Kollaborationen mit hauptsächlich Schweizer, aber auch internationalen Künstlern zusammen. So entstehen einmalige Projekte in kleinen Auflagen. Die Edition Patrick Frey bietet jungen Künstlern eine Plattform und die Möglichkeit für eine erste Publikation. Ausserdem ist der Verlag in Langzeitkollaborationen mit renommierten Künstlern wie Walter Pfeiffer, Karen Kilimnik, Anne-Lise Coste, Peter Fischli & David Weiss und Andreas Züst involviert. Mit einem Output von etwa 20 Büchern pro Jahr, liegt der Fokus auf Fotografie, Kunst und auf Projekten, die Popkultur und das Alltägliche thematisieren. 

"Das Flüstern der Dinge" (ISBN: 978-3-906803-35-7) oder " The Whispering of Things" (ISBN: 978-3-906803-85-2) kann direkt bei Edition Patrick Frei oder im Buchhandel bezogen werden. 

Eigentlich wären die Bilder in einer Ausstellung während den 56. Solothurner Filmtagen im Künstlerhaus S11 zu sehen gewesen. Aus den bekannten Gründen wurde die Ausstellung leider abgesagt.

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Asche...
Hüftimplantat, 2020 | © Tina Ruisinger

Hüftimplantat, 2020 | © Tina Ruisinger

“Das einzig Wichtige im Leben, sind die Spuren von Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." 

Albert Schweizer

Hüftpfanne, 2020 | © Tina Ruisinger

Hüftpfanne, 2020 | © Tina Ruisinger

Mit "Ashes" hinterfragt die Fotografin Tina Ruisinger was am Ende bleibt. Nach der Kremation bleibt nicht nur Asche – in verschiedenen Farbtönen – zurück, sondern auch Dinge, die nicht verbrennen, die bei über 1000° Celsius nicht verschwinden. Manchmal sind es Dinge, die Erinnerungen an Menschen wecken, die nicht mehr da sind… Wie eine Archäologin der Gegenwart sucht Tina Ruisinger in der Asche nach Überbleibseln von Biografien und lässt sie vor dem Objektiv zu Kleinoden von rätselhafter Schönheit erblühen.

Glöckchen | © Tina Ruisinger

Glöckchen | © Tina Ruisinger

Bereits in der Altsteinzeit gab man Verstorbenen Gegenstände ins Jenseits mit. Für die alten Ägypter, für Kelten aber auch für Römer war es klar, dass Verstorbene auf ihrem Weg ins Jenseits Waffen, Proviant und Geld brauchen. Dass diese Sitte bis heute lebendig ist haben Ofenmeister tagtäglich in Krematorien vor Augen. Dies wirft natürlich Fragen auf: Was darf man heute in den Sarg mitgeben? Darf man seinem besten Freund seinen Lieblings-Rum mit auf die letzte Reise geben? Was passiert mit dem künstlichen Kniegelenk, das meiner Mutter eingesetzt wurde? Vielleicht taucht auch die Frage nach der Farbe der Asche auf…

Stent | © Tina Ruisinger

Stent | © Tina Ruisinger

Eltern möchten ihrem viel zu früh verstorbenen Kind vielleicht den Lieblings-Teddy mitgeben, damit es den letzten Weg nicht alleine gehen muss. Oft sind es aber auch Familienfotos, Kinderzeichnungen oder Briefe, in denen Unausgesprochenes steht, die in den Sarg gelegt werden… Dem passionierten Bergsteiger wird ein Seil, dem Raucher die Pfeife, die Lieblingszigarre oder eine Schachtel Zigaretten auf die Reise mitgegeben. 

Alles Explosive hingegen sollte nicht in den Sarg gelegt werden – der Lieblings-Whisky oder der Lieblings-Champagner sollte in Erinnerung an den Onkel, der besten Freundin genossen werden…

Pacemaker | © Tina Ruisinger

Pacemaker | © Tina Ruisinger

Die Bilder des Übriggebliebenen machen nachdenklich, still und demütig zugleich. Vielleicht beginnt man sich gar Gedanken zu machen was man selbst auf der letzten Reise dabei haben möchte. Vielleicht entstehen Gespräche mit den Angehörigen und sie erzählen, wie sie es sich wünschen…

Brille | © Tina Ruisinger

Brille | © Tina Ruisinger

Tina Ruisinger (1969*) in Stuttgart geboren, hat an der Hamburger Fotoschule, am International Center of Photography in New York und an der ZHdK in Zürich studiert. Seit den frühen Neunzigern arbeitet sie selbstständig in den Bereichen Reportage, Porträt und Tanz/Performance, sowie an interdisziplinären künstlerischen Projekten unter Verwendung von Fotografie, Video, Sound und Text. Schwerpunkt ihrer Arbeit war/ist immer der Mensch in seiner Lebenskraft, Unbeständigkeit und Sterblichkeit. 2002 erschien der Fotoband Gesichter der Fotografie, über 50 Meisterfotografen des 20. Jahrhunderts, der internationale Anerkennung erhielt und 2007 das Tanzbuch Meg Stuart/Anne Teresa de Keersmaeker über zwei der einflussreichsten Choreografinnen unserer heutigen Zeit. Mit der Arbeit Traces vertieft sie sich noch mehr in die Thematik von Verlust und Erinnerung. Sie hat zahlreiche Preise und Stipendien gewonnen. Ihre Arbeit wurde/wird international sowohl in Einzel- als auch in Gruppenausstellungen gezeigt. Neben ihren freien Projekten realisiert sie Auftragsarbeiten, u.a. für die Rolex Mentor and Protégé Arts Initiative. 2019 hat sie eine Weiterbildung in Palliative Care absolviert und bildet sich derzeit in Phototherapie weiter. Tina Ruisinger lebt und arbeitet in Berlin und Zürich.

© Tina Ruisinger

© Tina Ruisinger

Die Arbeit "Asche – und was am Ende bleibt" kann im Friedhof Forum auf dem Friedhof Sihlfeld in Zürich bis voraussichtlich 15. Juli 2021 besichtigt werden. Zudem ist eine Publikation geplant.

Art, DocumentaryMiryam Abebe
Lost Islands and Flowers...
© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

Finale

Più non muggisce, non sussurra il mare, il mare.
Senza i sogni, incolore campo è il mare, il mare.
Fa pietà anche il mare, il mare.
Muovono nuvole irriflesse il mare, il mare.
A Fumi tristi cedé il letto il mare, il mare.
Morto è anche lui, vedi, il mare, il mare.

Aus "La Terra Promessa", Giuseppe Ungaretti[1]

© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

Die Landschaftsbilder in "Lost Islands and Flowers" erinnern an alte, vergilbte Postkarten, die man in einer Schachtel auf dem Dachboden der Grosseltern, Eltern oder finden kann. Sie erinnern an vergangene Urlaube auf einer Mittelmeerinsel, die Liebesgeschichte einer Tante oder besten Freundin der Familie. Im Innersten mögen sie wohl auch die Sehnsucht nach einer Reise an verstecke Orte wecken, die man aus Filmen mit Gina Lollobrigida oder an "Meine geniale Freundin" von Elena Ferrante.

© Mireille Wunderly

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Der Blumen Rausch
Das Blumen Meer

nie kann es dein letzter Atem sein
die Herzrose der Blumenstern
senden Blumenduft Verlust und Nähe
Dornen des Leibes Schmerzen
nochmals Blütenblätter rauschen
wie Sehnsucht die nicht wiederkommt
im Blütenstaub ertrunken
Töne von klirrenden Bergspitzen
für die Muschel die Leidenschaft hört
die Schwalbe dreht auf Süden
die Rosenbüsche welken
Knospen sich öffnen
erlösen von vernichtenden Gefühlen
im Pollenparadies versinken
im Blütenstaub ertrunken

Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

"In Erloschene Inseln – sinkende Blüten treffen zwei Welten aufeinander: die Blüte und die Insel. Ausgehend von diesem Gegensatzpaar öffnet die fotografische Recherche von Mireille Wunderly ein Feld von Referenzen, das auch stellvertretend für ihr reiches künstlerisches Schaffen steht. Dass die Künstlerin ihre Arbeiten in dieser Publikation durch mehrere Gedichte ergänzt, lenkt den Fokus auch auf die sprachliche Gestalt des Titels." Susanna Koeberle geht in ihrem Text auf weitere Aspekte des Werks von Mireille Wunderly ein und zeigt, wie verwoben die Blumen- und Landschaftsbilder mit den Gedichten sind, auf.

© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

Mireille Wunderly (*1935) ist in Zürich geboren. Sie besuchte 1953 – 1954 den Vorkurs an der Kunstgewerbeschule Zürich (ZHdK) und liess sich 1954 – 1956 an der Porzellanmanufaktur Richard Ginori in Doccia bei Florenz und der Ecole Suisse de Céramique in Chavannes-près-Renens zur Keramikerin ausbilden. 1957 – 1960 besuchte sie in Rom und München die Kunstakademie mit Schwerpunkt Skulptur. Während einigen Jahren lebte sie in Paris (1960 – 1962), New York (1963 – 1968), London (1970 – 1973) und Rom (1987 – 2007). 1962 erhielt sie ein Stipendium der Fairleigh Dickinson University in New Jersey. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen (Kunst im West Galerie, Zürich, Galleria Artevisive, Rom, Galerie Werner Bommer, Zürich, Künstlerhaus Palais Thurn und Taxis, Bregenz, Kulturhaus Palazzo, Liestal, Julian Pretto Gallery, New York und anderen) präsentiert.

© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

Susanna Koeberle ist freie Journalistin und bezeichnet sich als Nomadin mit Basis in Zürich. Als Journalistin und Autorin setzt sie unterschiedliche Disziplinen und Kulturen in Beziehung zueinander. Thematische fokussiert sie sich auf Design, Architektur und Kunst sowie auf ihre vielfältigen Schnittstellen.

© Mireille Wunderly

© Mireille Wunderly

Die Galerie & Edition Stephan Witschi hat sich der Fine Art Fotografie und der Malerei verschrieben. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich insbesondere auf Positionen, die ihren eigenen künstlerischen Weg verfolgen und dabei unabhängig von Trends nahezu zeitlos aktuell bleiben. In ihrem Programm, das sich durch Diversität und Gegenwartsbezogenheit auszeichnet, sind sowohl international renommierte Künstler*innen wie Jungjin Lee als auch aufstrebende Fine Art-Fotografen*innen wie Ester Vonplon, die durch Museumsausstellungen und Preise ihren Platz in der internationalen Kunstszene gefunden haben. Klare Haltungen, starke Aussagen und hohe Qualität bilden den gemeinsamen Nenner der von der Galerie vertretenen Künstler*innen, denen oftmals feinsinnig ein kritischer Geist innewohnt.

Das Buch "Lost Islands and Flowers" (ISBN 978-3-906191-17-1) kann direkt bei Galerie & Edition Stephan Witschi oder im Buchhandel bezogen werden.

[1] Giuseppe Ungaretti wurde 1888 in Alexandria geboren und starb 1970 in Mailand. Ab 1912 studierte er an der Sorbonne in Paris und lernte unter anderen Max Jacob, Derain, Picasso und Braque kennen. 1914 kehrte er nach Italien zurück, um für sein Heimatland im ersten Weltkrieg zu kämpfen. 1916 entstanden seine ersten Texte, in denen der Einfluss der französischen Futuristen erkennbar war. Nach dem ersten Weltkrieg war er vor allem als Journalist tätig. Ab 1937 war er Professor für italienische Literatur in São Paulo, von 1942 – 1959 in Rom. 1970 war Giuseppe Ungaretti erster Preisträger des Neustadt International Prize for Literature, der durch die Universität Oklahoma verliehen wird.

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