Peggy Kleiber – Reise in das fotografische Werk…
Rom, 1964 © Peggy Kleiber
Poesie des Alltäglichen: Die späte Entdeckung der Peggy Kleiber
Vom Glück des Sehens und der Diskretion: Der Verlag edition clandestin hebt mit der Monografie «Peggy Kleiber» einen verborgenen Schatz der Schweizer Fotografiegeschichte. Ein Buch wie eine Reise – von den Gassen Roms bis in das Herz einer Familie.
© Peggy Kleiber
Manchmal beginnt Kunstgeschichte mit einem Fundstück, das eigentlich gar nicht gefunden werden wollte. Im Fall von Peggy Kleiber (1940–2015) waren es zwei Koffer, die nach ihrem Tod in ihrer Wohnung standen. Der Inhalt: Rund 15’000 Fotografien, aufgenommen zwischen 1959 und den frühen 1990er-Jahren. Zu Lebzeiten blieb dieses Werk weitgehend unsichtbar, ein privates Archiv einer Frau, die hauptberuflich als Lehrerin arbeitete und ihre Bilder selten zeigte.
Nun liegt mit dem Bildband «Peggy Kleiber», herausgegeben von der Association – Les Photographies de Peggy Kleiber, eine Publikation vor, die dieses Werk dem Vergessen entreisst. Und was für ein Werk es ist: Es ist keine chronologische Abhandlung, sondern eine «poetische Reise von aussen nach innen».
© Peggy Kleiber
Der Blick der Flaneurin
Wer war diese Frau, die mit ihrer Leica M3 durch Europa reiste? Peggy Kleiber war eine Beobachterin der leisen Töne. Ihre Fotografien zeugen von einer tiefen, fast zärtlichen Aufmerksamkeit für die Welt. Das Buch gliedert sich in drei grosse Themenbereiche: Reisen, Gesellschaft und Familie.
Besonders eindrücklich sind ihre Aufnahmen aus Italien. Rom wurde für die junge Peggy Kleiber zur Wahlheimat, ein «geliebtes Gesicht». Fernab der touristischen Pfade des Dolce Vita suchte sie das Authentische in den Vorstädten und Gassen. Ihre Bilder fangen das Licht der Ewigen Stadt ein, die «unglaubliche Symphonie von Farben» – auch wenn sie in Schwarz-Weiss fotografierte. Wir sehen spielende Kinder auf Plätzen, Nonnen, die in einen Bus steigen, oder das flirrende Leben in Trastevere. Es sind Bilder, die bezeugen, dass das Gesehene tatsächlich existiert hat, ganz im Sinne Roland Barthes.
© Peggy Kleiber
Zwischen Poesie und Politik
Doch Peggy Kleiber war mehr als eine romantische Reisende. Ihr Werk ist durchzogen von einem feinen, aber bestimmten gesellschaftspolitischen Bewusstsein. Beeinflusst von der Lektüre der Philosophin Simone Weil, begab sie sich 1965 in eine Fabrik in Roggwil, um Arbeiterinnen zu fotografieren. In Sizilien dokumentierte sie die Arbeit des Sozialreformers Danilo Dolci und fing die Gesichter der Strassenkinder von Partinico ein.
Lorenzo Pallini beschreibt in seinem Essay im Buch treffend, wie Kleiber eine Verbindung herstellte zwischen den grossen Anliegen der Gesellschaft und den kleinen Momenten des Alltags. Sie war da, sie sah hin, aber sie drängte sich nie auf. Ihre Haltung war die einer «diskreten» Zeugin, die sich oft unsichtbar machte, um den anderen Raum zu geben.
© Peggy Kleiber
Das Familienalbum als Kunstwerk
Der dritte Teil des Buches führt ins Intime: zur Familie. Peggy Kleiber, die selbst keine eigenen Kinder hatte, wurde zur Chronistin ihrer grossen Verwandtschaft. Ihr 2006 selbst gestaltetes Buch «Rue Neuve 44» dient als Basis für diesen Abschnitt16. Hier zeigt sich eine andere Qualität ihres Schaffens: Die Distanz der Strassenfotografie weicht einer vertrauten Nähe. Wir sehen Kinder beim Spielen, Hochzeiten, das Leben in seinen Zyklen.
Sylvia Battegay arbeitet in ihrem Text heraus, wie Kleiber in diesen Bildern das «Geheimnis der persönlichen Existenz» wahrt. Es sind Aufnahmen voller Lebensfreude, in denen Tränen und Traurigkeit zwar nicht gezeigt werden, aber als leise Ahnung mitschwingen.
© Peggy Kleiber
Ein Plädoyer für «Fledermaus-Erzählungen»
Warum haben wir diesen Namen noch nie gehört? Teresa Gruber liefert in ihrem Beitrag eine kluge Antwort. Sie bezeichnet Werke wie jenes von Kleiber als «Fledermaus-Erzählungen» – Geschichten, die sich ausserhalb der etablierten Kanons der (männlich dominierten) Kunstgeschichte bewegen, deren Frequenzen wir erst lernen müssen zu hören. Kleiber war keine Berufsfotografin, sie strebte nicht nach Ruhm im Kunstfeld. Doch gerade diese Unabhängigkeit macht ihren Blick so unverstellt und wertvoll für eine «Vielstimmigkeit» der Schweizer Fotogeschichte.
© Peggy Kleiber
Dieser sorgfältig gestaltete Band ist mehr als eine Monografie; er ist eine Einladung, das Sehen neu zu lernen. Peggy Kleibers Bilder erinnern uns daran, dass «Aufmerksamkeit die seltenste und reinste Form der Generosität ist» – ein Zitat von Simone Weil, das dem Buch vorangestellt ist. edition clandestin hat dieser Generosität nun den Raum gegeben, den sie verdient.
© Peggy Kleiber
Sylvia Battegay: Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin befasst sich in ihrer Arbeit mit gesellschaftlicher und kultureller Diversität sowie politischer Kunst. Seit 2021 ist sie als Lektorin für den Verlag edition clandestin tätig und hat diesen Bildband redaktionell betreut.
Teresa Gruber: Sie ist Kuratorin bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. In ihrer kuratorischen Tätigkeit verantwortete sie unter anderem Ausstellungen zu renommierten Fotografinnen wie Manon, Annelies Štrba, Binia Bill und Lucia Moholy.
© Peggy Kleiber
Lorenzo Pallini: Der Filmemacher, Fotograf und Dozent ist seit Jahren im Bereich des Dokumentarfilms aktiv. Er war einer der Kuratoren der ersten italienischen Ausstellung über Peggy Kleiber («Tutti i giorni della vita»), die 2023 im Museo di Roma in Trastevere zu sehen war.
Hélène Faignot: Sie ist die Nichte von Peggy Kleiber und engagiert sich in der «Association – Les Photographies de Peggy Kleiber». Im Buch steuerte sie den persönlichen Text «Unsere Peggy» bei, der einen intimen Einblick in das Leben der Fotografin gibt.
© Peggy Kleiber
Francesca Petrarca Sie zeichnet für die Buchgestaltung verantwortlich und verfasste gemeinsam mit Sylvia Battegay den einleitenden Text «La Peggy».
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Der Verlag edition clandestin wurde 1989 von Judith Luks gegründet. Im Zentrum der Publikationstätigkeit des in Biel/Bienne, Schweiz, domizilierten Verlages stehen Kunstbücher, bibliophile Vorzugsausgaben und Kunstblätter. Vermehrt werden auch belletristische Werke in Kombination mit Fotos, Zeichnungen und Illustrationen ins Programm aufgenommen, Richtung Graphic Novel. edition clandestin ist Mitglied vom SBVV und von SWIPS (Swiss Independent Publishers), der Plattform der unabhängigen Schweizer Verlage.
© Peggy Kleiber
Das Buch Peggy Kleiber (ISBN 978-3 907262-74-0) kann direkt bei der edition clandestin oder im Buchhandel bezogen werden.