Coalmine - Forum für Dokumentarfotografie | Winterthur
29. Juni - 29. September 2018
Tomorrow there will be apricots
Die Coalmine realisiert eine Ausstellung der jordanisch-texanischen Fotografin Tanya Habjouqa, die 2014 mit dem World Press Photo Award ausgezeichnet wurde. Die Ausstellung besteht aus zwei Teilen: Die Serie «Occupied Pleasures», welche Habjouqa den World Press Photo Award einbrachte, vermittelt einen ungewöhnlichen Blickwinkel auf die palästinensischen Gebiete. Habjouqa hat Palästinenserinnen und Palästinenser bei ihren Freizeitbeschäftigungen fotografiert. Die Bilder erzählen von der Suche nach Vergnügen, nach Entspannung und Normalität in der schwierigen Realität der besetzten Gebiete. Die zweite Serie, «Tomorrow there will be apricots», ist düsterer: Habjouqa porträtiert Syrerinnen, die zu Beginn des Krieges nach Jordanien flohen und sich in einer ausweglosen Situation wiederfinden. Der Titel gibt eine arabische Redewendung wieder, welche für die Hoffnung auf etwas steht, was wahrscheinlich nie eintreffen wird. Anders gesagt: Es gibt kein Morgen.
Habjouqa hat die Syrerinnen während fünf Jahren begleitet. In dieser Zeit wurden die Perspektiven der Frauen immer hoffnungsloser – ihre Männer kamen im Krieg ums Leben oder machten sich auf nach Europa, ungewiss, ob sie die Reise überleben oder den Nachzug der Familie je bewerkstelligen würden. Während die Zeit verging und die finanzielle Situation der Frauen prekärer wurde, gerieten so manche unter Druck, ihre Töchter zu verheiraten.
Habjouqa lebte 2005 in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Davor hatte sie den amerikanischen Einmarsch im Irak dokumentiert. «Ich wollte an einer anderen nahöstlichen Geschichte arbeiten, einer Geschichte ohne Gewalt und Krieg. Es mag heute ironisch scheinen, aber damals schien Damaskus meine Wünsche zu erfüllen», schreibt sie. «Natürlich wusste ich immer, dass das Land von einer Düsterheit umgeben war. Die Stabilität Syriens hatte einen hohen Preis. Dissens wurde nicht toleriert, es gab weder Meinungsäusserungs- noch Versammlungsfreiheit, und die notorischen Gefängnisse des syrischen Regimes waren voll von jenen, die nicht einverstanden waren. <Tomorrow There Will Be Apricots> entstand aus dem gegenwärtigen schrecklichen Moment, in dem eine noch grössere Finsternis das Land erfasst hat.»
Dennoch lenkt Habjouqa den Blick des Betrachters immer wieder auf die Suche der Frauen nach Normalität und Lebensfreude, oder ihren schwarzen Humor. Obwohl Habjouqa unter schwierigen Bedingungen arbeiten musste – die meisten Frauen liessen etwa ihr Gesicht nicht fotografieren – ist es ihr gelungen, eine berührende Nähe zu den Frauen herzustellen.
Auch «Occupied Pleasures» ist getrieben vom Wunsch, von stereotypen Bildern wegzukommen. Palästinenser, so Habjouqa, werden in der Regel entweder als Terroristen oder als Opfer porträtiert. Ihr Werk hingegen erzählt von der menschlichen Fähigkeit, sich unter schwierigen Bedingungen zu amüsieren. «Vergnügen unter Militärbesetzung» - das ist auch eine subtile Form der Auflehnung. Habjouqa schreibt: «Mehr als vier Millionen Palästinenser leben im Westjordanland, in Gaza und in Ostjerusalem, wo die Politik regelmässig in die alltäglichsten Situationen eindringt. Daraus entsteht ein grösstmöglicher Wunsch nach dem kleinsten Vergnügen und ein scharfer Sinn für Humor gegenüber den Absurditäten, welche 47 Jahre Besetzung hervorgebracht hat.»
Habjouqas Fotografien sind von einer Intimität, die nur durch den Gewinn des Vertrauens der Porträtierten möglich ist. Sie arbeitet sichtbar mit viel Empathie und einem ausgeprägten Sinn für Humor. Ihr Werk zeigt Leute in widrigen Lebensumständen, Personen, denen Leid wiederfährt - ohne sie darauf zu reduzieren. Mit Mitteln wie Videos sucht sie einen vielseitigeren Zugang, der über die klassische Stillfotografie hinausgeht. Habjouqa erzählt persönliche Geschichten, die sich hinter den Schlagzeilen von Konflikt und Krieg abspielen, und öffnet so für die Betrachterinnen und Betrachter ein Fenster auf die Lebensrealität jener, die von den Konflikten im Nahen Osten betroffen sind.
Biographie
Tanya Habjouqa wurde 1975 in Jordanien geboren und wuchs in Texas auf. Sie arbeitet heute als Dokumentarfotografin in Ostjerusalem und ist Mitglied von NOOR, einem Kollektiv von ausgewählten Fotojournalisten, Filmemachern, Künstlern, Autoren und visuellen Storytellers. Sie studierte Journalismus und Anthropologie und schloss ein Masterstudium in globalen Medien mit Schwerpunkt Politik des Nahen Ostens an der Universität SOAS in London ab. Ihr Werk bildet vielschichtige Realitäten ab und möchte ein Gegengewicht zu eindimensionalen Darstellungen in den etablierten Medien setzen.
Ihr Fotobuch «Occupied Pleasures», das ihr 2014 den World Press Photo Award einbrachte, wurde vom Time Magazine und vom Smithsonian als eines der besten Fotobücher des Jahres 2015 ausgezeichnet. Sie betreut als Mentorin der Magnum Foundation junge Stipendiaten in der arabischen Welt im Rahmen des Emerging Arab Photographer Documentary Fund, zusammen mit der Prince Claus Foundation und dem Arab Fund for Arts and Culture. Sie ist ausserdem Mitbegründerin von Rawiya, dem ersten rein weiblichen Fotokollektiv im Nahen Osten.
(Text: Coalmine)