"Face Control" in der Foto Colectania, Barcelona…
(Sich selbst) sehen, als Selfie inszenieren; von anderen gesehen werden: ein Gesicht; dein Gesicht! Gesucht, erkannt, – verkannt? – einem wahrhaft “janusköpfigen” Themenkomplex widmet sich die aktuelle Ausstellung in der Fotocolectania Barcelona (kuratiert von Urs Stahel).
Der gewählte Titel: «Face Control» benennt bereits die beiden gegensätzlichen Anknüpfungspunkte, die beiden Pole, an deren magnetischer Mittellinie entlang sich die Schau mit zahlreichen Werken bewegt: «Face», Gesicht, das Selbst-Porträt bzw. Selfie, dieses Selbstbild also, welches wir vermeintlich autonom über Social Media und andere Kanäle herumpräsentieren, gefiltert, optimiert, bereinigt, oft bis die individuellen Züge hinter einer computergenerierten Maske verschwinden; auf der andern Seite «Control»; die Programme, Algorithmen und Softwares, die befähigt sind, dank der ihr verfügbaren, jede Minute wachsenden Daten-Menge aus einer Masse von anonymen Gesichtszügen einen spezifischen Fall, eine spezifische Person heraus zu identifizieren, zu extrapolieren, zu exponieren. Ein explosives Feld, in dem die Grenzen des «Privaten» und dem «Öffentlichen», aber auch von Manipulation und manipuliert-werden sich überlappen und klare Grenzziehungen schwierig werden.
Idealisierte (Selbst-) Bilder sind zwar seit frühster Zeit und in verstärktem Masse aus der Renaissance bekannt; im Karneval geben wir uns seit jeher ein «fremdes» Gesicht, schlüpfen in eine Larve, und bleiben deswegen beim Morgenstraich unerkannt. Im Zeitalter der Aufklärung war es Johann Caspar Lavater, der in seinen Schriften zur Physiognomie den Versuch anstellte, aus Gesichtszügen im Sinne einer Typisierung auf spezifischen Charakteren zu schliessen, und damit viel Gesprächsmunition lieferte. Denn man ahnt natürlich, dass Ansätze zur «Vereinfachung» oder Schubladisierung schnell entgleisen können - und es kaum zwei Jahrhunderte später auch taten.
Wir sind eine debattenfreudige Gesellschaft, ausgerüstet mit viel Schrift und Theorie, wortreich und laut. Gerade deswegen ist es umso reizvoller, den Raum Künstler*innen zur Verfügung zu stellen, die sich mit eher stillen, kreativen Mitteln und Strategien diesem Problemfeld stellen oder deren Werke sich thematisch gut einfügen. Die ganz zu Beginn der Schau gezeigten Front/Profil-Fotos von Verbrecher*innen – polizeiliches Bildmaterial zur Identifikation – kann man als thematisches «warm-up» verstehen. Sie leiten schwarzweiss und analog ein in eine sich schnell entfaltende, reichhaltige, farbige, im wahrsten Sinne überaus facettenreiche Ausstellung.
Kurze Texte an den Wänden stecken den theoretischen Rahmen ab, was es den Besucher*innen erleichtert, angeregt von den gezeigten Werken aus der traditionellen Fotografie bis hin zu Multimedia (zu sehen sind u.a. Werke von Diane Arbus, Thomas Ruff und Richard Hamilton ebenso wie von Alma Haser, Daniele Buetti, Shu Lea Chang oder Eva O’Leary) das kontroverse Thema «Face Control» auch für sich selbst zu reflektieren.
Es ist der Fundació Fotocolectania bzw. Urs Stahel gelungen, sich diesem komplexen, vielschichtigen Thema im Rahmen einer Ausstellung auf intelligente Weise zu nähern, ohne an Banalitäten hängenzubleiben oder mit simplen Positionen zu langweilen.
Noch bis 20.3.2022, Foto Colectania Barcelona, C/ Passeig Picasso, 14, 08003 Barcelona
« (…) Die spanische Regierung arbeitet seit Monaten an der Instandstellung einer «intelligenten Grenze», bei der die Grenzübergänge der (sich auf marokkanischem Boden befindlichen, sma) autonomen Städten Ceuta und Melilla mit Gesichtserkennungs-Kameras ausgerüstet werden. Obwohl solche Pläne sich rechtlich innerhalb der EU-Richtlinien befinden, beklagt eine Reihe von humanitären und sozialen Organisationen den Einsatz von AI (Artificial Intelligence), weil damit fundamentale Rechte der Menschen, die nach Europa kommen, verletzt werden könnten. (…)» (el periódico, Barcelona, 14.1.2022, Übersetzung sma