Die Verwandte...

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Als ich drei Wochen später zum letzten Mal die Wohnung betrat, war sie leergeräumt. Alle Wände freigelegt; die Bilder, die Spiegel, die Bücherregale und die Pendule hatten ihre Licht- und Staubabdrücke darauf hinterlassen. Auf dem Parkett die von Teppichen unterbrochenen Spuren des täglichen Gehens zum Tisch, an Sofa, Sesseln und Schrank vorbei. Da, wo mein Grossvater aufgebahrt gewesen war, lagen nun zwei Bananenschachteln auf dem Boden, gefüllt mit achtlos hineingeworfenen Fotografien und Alben. Meine Mutter hatte mich angerufen. Ich solle mir die Fotos anschauen kommen, das könne vielleicht interessant sein, hatte sie gesagt. Und: "Nimm Deine Kamera mit!" […]

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Mimi von Moos reflektiert in literarischen Texten den Beginn des Aufarbeitens des fotografischen Nachlasses ihrer Urgrosstante Anne-Marie von Wolff, über das Betrachten von Fotografien, die bei Familienangehörigen Erinnerungen an die unscheinbare Fotografin und Aussenseiterin evozieren. Gekonnt integriert sie Textfragmente aus den geführten Interviews mit Angehörigen… 

Die beste Ausgangslage wäre wohl, wenn man abgeklärt und gelassen, vollkommen ungerührt bleibt, wenn sich eine Kamera auf einen richtet. 

Damals musste man eine starke Persönlichkeit haben. Heute geht man zum Psychologen.

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Tine Melzer schreibt in ihrem Essay "Ein Album der Möglichkeiten" über mögliche Blickwinkel die Bilder aus dem Nachlass von Anne-Marie von Wolff zu betrachten, zu verstehen und sich trotz der fremden Menschen berühren zu lassen. Aspekte, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken, können historisch-dokumentarisch sein – so sah es in der Zeit des Zweiten Weltkriegs in einigen Teilen der Schweiz aus – oder soziologisch – so hat sich eine wohlhabende bildungsbürgerliche-progressive Familie in Szene gesetzt. Genau da liegt eine Besonderheit dieses Nachlasses der Anne-Marie von Wolff: hier schafft nicht das Auge einer professionellen Fotografin, die zu Familienfesten und anderen repräsentativen Anlässen Portraits und Ansichten im Auftrag der Familie festhält; vielmehr sind die Bilder dem Zweck enthoben, repräsentativ und affirmativ zu sein. […]

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Der Verlag: Anne-Marie von Wolff (1893–1974) aus Luzern führte schon früh das Leben einer Aussenseiterin. Epileptische Anfälle als Kind, Tuberkulose und der Vorwurf, durch diese Erkrankung den Tod einer Nichte verursacht zu haben, drängten sie immer weiter aus dem sozialen Leben, machten sie aber möglicherweise auch zu jener aufmerksamen Beobachterin, die sie war. Ihre Kamera gab ihr einen Platz in der Welt und im Familiengefüge. Still und etwas streng soll sie gewesen sein, doch ihre Aufnahmen des Alltags in Luzern, der Sommerfrische in Les Mayens de Sion oder auf Schloss Mauensee beim Cousin, dem Journalisten und Schriftsteller Karl von Schumacher, zeugen von zärtlicher Zuwendung und überzeugen durch starke Kompositionen. Ihr künstlerisches Talent blieb zeitlebens unbeachtet. Das änderte sich, als die Urgrossnichte, Mimi von Moos zufällig bei ihrem Grossvater in einer Bananenschachtel einige ihrer Fotos entdeckte. Bis heute trug sie um die 1500 Schwarzweissaufnahmen aus den 30er- bis 50er-Jahren zusammen. 

Mimi von Moos’ literarische Texte reflektieren und erzählen aus heutiger Sicht über die Betrachtung dieser Fotografien und ihrer Zeit und sie versuchen ein Bild der beinah unsichtbaren Fotografin zu zeichnen. Die Verwandte ist eine Auseinandersetzung mit den vielen Aspekten des Fotografischen anhand eines aussergewöhnlichen Fundes. Transkribierte Statements aus Gesprächen mit Familienangehörigen und ein Essay der Künstlerin und Sprachphilosophin Tine Melzer begleiten diese kritische Beschäftigung. Sie führen tiefer in die leuchtende Bilderwelt jener Verwandten, die sich immer ein wenig abseits im Schatten aufgehalten hat.

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Mimi von Moos (*1969) ist in Luzern geboren und lebt und arbeitet heut in Basel und Rotterdam. 1993 erlangte sie an der Hochschule für angewandte Kunst ein Diplom in Schmuckdesgin. 2012 schloss sie mit dem Master of Fine Arts an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Basel ab. Seither war/ist sie an zahlreichen Ausstellungen und Projekten beteiligt.

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Tine Melzer (PhD) lebt in Zürich. Sie ist Autorin, Künstlerin und Forscherin mit Fokus auf Sprache. Wie in ihrem preisgekrönten Buch "Taxidermy for Language-Animals" (Rollo-Press) veröffentlicht, untersucht sie Sprachfragmente aus verschiedenen Praktiken - Philosophie, Literatur, visuelle Kunst - indem sie einige unserer sprachlichen Gewohnheiten und Werkzeuge nutzt. Sie ist ausserordentliche Professorin an der Hochschule der Künste Bern (HKB), wo sie derzeit zu Phänomenen des Aspektwechsels forscht. Ihre Arbeiten werden international ausgestellt und publiziert.

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Die Edition Patrick Frey hat seit ihrer Gründung 1986 mehr als 300 Bücher veröffentlicht. Der Verlag arbeitet in engen Kollaborationen mit hauptsächlich Schweizer, aber auch internationalen Künstlern zusammen. So entstehen einmalige Projekte in kleinen Auflagen. Die Edition Patrick Frey bietet jungen Künstlern eine Plattform und die Möglichkeit für eine erste Publikation. Ausserdem ist der Verlag in Langzeitkollaborationen mit renommierten Künstlern wie Walter Pfeiffer, Karen Kilimnik, Anne-Lise Coste, Peter Fischli & David Weiss und Andreas Züst involviert. Mit einem Output von etwa 20 Büchern pro Jahr, liegt der Fokus auf Fotografie, Kunst und auf Projekten, die Popkultur und das Alltägliche thematisieren.

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Die Verwandte. Aus dem fotografischen Nachlass von Anne-Marie von Wolff (ISBN 978-3-906803-91-3) kann direkt bei der Edition Patrick Frey oder im Buchhandel bezogen werden.

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BelleVue ist ein Ort in Basel, wo zeitgenössische Fotografie ausgestellt und diskutiert wird. Im kulturellen Wandel sind Orte wie BelleVue als «Kochtopf» kreativer und kritischer Ideen und innovativer Beiträge wichtig. Sie bieten die «Reibfläche» zum gängigen Mainstream. Wir bieten eine etablierte Plattform für zeitgenössische Fotografie, die regelmässig Werke bekannter Fotograf*innen und junger Talente in ihrem Ausstellungsraum einem breiten Publikum zugänglich macht.

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Am 3. Juni 2021 findet im BelleVue – Ort für Fotografie in Basel eine Buchpräsentation von "Die Verwandte. Aus dem fotografischen Nachlass von Anne-Marie von Wolff" mit Mimi von Moos statt.

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Ein singuläres Foto ist zwischen den anderen Fotos aufgetaucht, die sich einordnen und einfügen lassen in Bildgruppen, Serien und Reihen. Meine Recherchen ergeben zweifelsfrei, dass es auf dem Petersplatz in Rom aufgenommen wurde. Da es in dem zusammengetragenen Nachlass nur dieses eine Bild aus Italien gibt, vermute ich, dass ein grosser Bestand ihrer Fotografien im Laufe der Zeit verloren gegangen ist – oder noch gefunden werden muss.

Mimi von Moos