Cicatrice - eine Einordnung von Melody Gygax…
Eine künstlerische Arbeit mit einer klaren Botschaft. Nicht nur für die Schönheit dieses majestätischen Steins. Hier schwingt Stolz und Tradition, seine Erfolgs-Geschichte mit - ich selbst habe meinen Bezug und bin mit diesem Stein im Garten in Form eines Brunnens aufgewachsen und kletterte als Kind im Steinbruch herum – aber natürlich hat das Eingreifen des Menschen in die Natur, der Jahrhunderte lange Abbau des Felsens auch seine Folgen und zeichnet seine Furchen oder Narben in die Natur. «Cicatrice» auf italienisch und französisch → Narbe
Wie damit fotografisch umgehen?
Die gewählte Form erschliesst sich aus dem Werdegang des Fotografen Kostas Maros und zeigt seine Entwicklung deutlich. Nach Abschluss seiner juristischen Laufbahn begann er als Pressefotograf bei der Basler Zeitung und machte ein Praktikum bei mir. Im Jahr 2012 stellte ich ihn als Bildchefin der Zeitung fest an, wo er noch heute neben anderen Wirkungsfeldern tätig ist. Er zeichnet sich durch seine qualitativ hochstehende und feinfühlige Portraitfotografie aus und seine Reportagen folgen gekonnt einem narrativen Strang, sich der Vollständigkeit bewusst, die dieses Genre erfordert: Vollständigkeit bedeutet, dass auch alle negativen Aspekte beleuchtet werden, auch Personen miteinbezogen werden und die Auswirkungen auf die Natur breit sichtbar wird.
Seine Tätigkeitsfelder erweitern sich aber auch immer mehr in eine neue Richtung.
Nun wäre dieses Thema für eine klassische Reportage mit gesellschaftskritischem Hintergrund ideal. Obwohl der Fotograf während seiner Aufenthalte in Carrara mit einem Umweltaktivisten in den apuanischen Alpen unterwegs war, ist die Herangehensweise des Fotografen nicht die der Reportage: Er geht künstlerisch vor. Er entscheidet sich für ein Extrakt, er nimmt sich die Freiheit, wegzulassen. Das heisst, dass er eben nicht der Vollständigkeit verpflichtet ist und nicht alle - im Ausstellungstext beschriebenen - Aspekte mitnehmen muss. Hier endet die Form der Reportage und beginnt die Kunstform. Beide Formen schliessen sich aber nie aus.
Der Mensch steht wohl neben der Natur im Zentrum dieser Arbeit, ist aber nicht direkt sichtbar. Seine Spuren sind es, er ist stark spürbar durch seinen Eingriff in die Natur. Der Fotograf lässt den Menschen in seinen Fotografien hier bewusst aussen vor. Er legt den visuellen Fokus auf die Natur und verzichtet auf menschliche Präsenz.
Aus persönlichem Interesse und aus Begeisterung für den Ort entstand diese Arbeit. Die Vorgehensweise ist eine sehr langsame, da er mit der Fachkamera weniger mobil ist und sie ein langsames, aber wachsameres Fotografieren erfordert. Er schaut anders: bewusster, überlegter, bewegt sich also in einer ganz anderen Form um das gigantische Sujet herum. Gewisse Bilder und Perspektiven erfordern einen Mehraufwand, längere Kletterrouten, die er mit dem Umweltaktivisten und Kenner der apuanischen Alpen bewältigt.
Die visuelle Anziehungskraft der Mächtigkeit des Steins erschlägt einen beinahe, einer Ohnmacht gleich. Kostas entscheidet sich, grafisch vorzugehen und zeichnet ein architektonisches Portrait. Er vermeidet störende Faktoren wie teilweise überflüssigen Himmel, Bagger, den Menschen - es ist kein touristischer Blick, sondern ein skulpturaler. Die Erhabenheit und die Schönheit werden virtuos verbunden mit dem Aspekt der Zernarbung des Berges und dem Einschnitt in die Landschaft. Die Anmutung aller Bilder in diesem Raum bilden eine visuelle Verneigung vor der monumentalen Kulisse und vor allem einen Weckruf an die Menschen im Umgang mit der Natur.
Dieses Vorgehen erinnert an den Fotografen Paolo Pellegrin, der Fotografenagentur MAGNUM PHOTOS, der mit seiner Arbeit «Antarctica» einen solchen Weg ging. Er zeigt eben nicht «nur» die Schönheit der Antarktis, indem er sehr nahe über der Oberfläche fliegen kann, ermöglicht durch die Nasa, sondern verweist auf das Leiden der Natur, auf die Klimaerwärmung und das Ansteigen des Meerespiegels.
Der Fotograf Kostas Maros (*1980) absolvierte an der Universität Basel eine rechtswissenschaftliche Ausbildung und arbeitete einige Jahre im juristischen Berufsfeld, bevor er 2013 autodidaktisch zur Fotografie wechselte. Seither ist er in der Schweiz und im Ausland für Editorial-, Corporate- und Werbekunden tätig und setzt Reportage- und Kunstprojekte um. Für seine Auftragsarbeiten wird er von der Agentur 13photo und für seine künstlerischen Arbeiten von der Galerie Monika Wertheimer und der Galerie 94 vertreten. Seine Arbeiten wurden unter anderem im Rahmen des Prix de la Photographie, Paris, des Vfg-Nachwuchsförderpreises, des Swiss Photo Award (Gewinner 2018) und des Swiss Press Award ausgezeichnet.
Gastautorin
Melody Gygax ist die Schweizer Vertreterin von MAGNUM PHOTOS. Seit über 20 Jahren steht die Fotografie im Mittelpunkt ihres Lebens, zuerst jahrelang als Bildredaktorin für verschiedene Medien und zuletzt als Bildchefin bei der Basler Zeitung. Als Bildredaktorin/Kuratorin arbeitet sie heute mit Brands, Werbeagenturen, Corporate Publishern, Fotogalerien, Kulturinstitutionen und Fotografen zusammen. Sie ist regelmässiges Jurymitglied bei Fotowettbewerben, ist als qualifizierte Jurorin an Schulen tätig, unterrichtet Fotografie in den Bereichen Konzeption, Kuration und Editing & Storytelling, und ist langjährige Expertin bei diversen Portfolio-Reviews.
Galerie 94
Seit 2015 befindet sich die Galerie 94 im ehemaligen Speditionsgebäude des Merker-Areals im Zentrum von Baden. Mit Schwerpunkt auf zeitgenössische und klassische Fotografie präsentiert sie nationale und internationale Künstlerinnen und Künstler. Sascha Laue, Gründer der Galerie führte bereits von 1994 – 2004 die Photogalerie 94 in Ennetbaden.