Archivgeschichte: Peter Keetman...
Aus der Serie „Eine Woche im Volkswagenwerk“, Wolfsburg 1953. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Als F.C. Gundlach 1975 mit der PPS. Galerie eine der frühen Fotogalerien Deutschlands gründete, war Peter Keetman einer der ersten Künstler, die er vertrat. Und das nicht ohne Grund, denn Keetman gehört zu den bedeutendsten Fotografen der Nachkriegszeit. Er zählt zu den jungen Wilden, die nach der ideologischen Vereinnahmung der Fotografie im Nationalsozialismus nach einer neuen Bildsprache suchten – und diese fanden. Sein Name ist untrennbar mit der Gruppe fotoform und dem Begriff der Subjektiven Fotografie verbunden. Gleichermaßen von modernem Formwillen und einem humanistisch durchwirkten Weltbezug geprägt, ist sein Werk noch heute hoch aktuell. Es lohnt sich also, einen Blick in sein Archiv zu werfen, das seit 2005 von der Stiftung F.C. Gundlach in Hamburg bewahrt wird.
Selbstbildnis, Stuttgart um 1950. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Zu den Ikonen von Keetmans Schaffen zählen ohne Zweifel seine Lichtpendelschwingungen. An ihnen zeigt sich exemplarisch, wie wichtig das fotografische Experiment für seine Arbeit war. Nach ersten Versuchen mit schwingenden Stricknadeln entwickelte Keetman eine ausgefeilte Methode: Eine vertikal an einem Draht befestigte Taschenlampe wurde in Bewegung versetzt, während eine auf einem Grammophon rotierende Kamera die Lichtbahn aufnahm. Das Ergebnis waren grafisch anmutende, einander überlagernde Schwingungsmuster – sogenannte Lissajous-Figuren. Diese zugleich schlichten wie betörend schönen Lichtkompositionen gelten heute in ihrer radikalen Reduktion als Klassiker der experimentellen Fotografie. Schätzungsweise hat Keetman um die 2000 Negative von diesem Genre angefertigt.
Plastische Raumschwingung, 1951. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Auch eine weitere zentrale Werkgruppe Keetmans entstand als freie Arbeit: Für Eine Woche im Volkswagenwerk (1953) reiste er ohne Auftrag nach Wolfsburg und fotografierte eine unkonventionelle Serie, die seinen Blick für Detail und Totale auf beispielhafte Weise zum Ausdruck bringt. Anstatt gängige Klischees der Industriefotografie zu bedienen, konzentrierte sich Keetman auf die formale Ästhetik industrieller Abläufe. Maschinenteile werden bei ihm zu Ornamenten, Produktionslinien zu Strukturen. So entsteht eine eigentümliche Bildsprache, die bis heute wegweisend ist. Rückblickend sprach Keetman von „drei der aufregendsten Tage in meinem langen Berufsleben“.
Aus der Serie „Eine Woche im Volkswagenwerk“, Wolfsburg 1953. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Die Weichen für dieses lange Berufsleben wurden früh gestellt. 1916 wurde er in Elberfeld, einem heutigen Stadtteil von Wuppertal, geboren. Von seinem Vater, der nicht nur Bankdirektor, sondern auch begeisterter Amateurfotograf war, erhielt er mit ungefähr zehn Jahren seine erste Kamera – eine Goerz Tenax-Balgenkamera für 6×9-Glasnegative. Durch ihn lernte er auch zeitgenössische fotografische Positionen kennen. Besonders interessierten ihn die Aufnahmen von Albert Renger-Patzsch und Adolf Lazi.
„Rückzug in Russland“, ca. 1943. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Ohne sein Wissen schrieb ihn sein Vater 1935 für ein Studium an der Bayerischen Staatslehranstalt für Lichtbildwesen ein – eine Entscheidung mit Weitblick, denn Keetman, durch einen Sprachfehler in vielen Berufen eingeschränkt, fand hier seine berufliche Perspektive. Nach der Gesellenprüfung 1937 trat er eine Assistentenstelle an, bevor er 1940 zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Seine Fotografien aus dieser Zeit zeigen – eindringlich und empathisch – die Unmenschlichkeit des Krieges, die er körperlich und seelisch miterlebte: Im Juni 1944 verlor er in Russland sein linkes Bein und kehrte als Invalide zurück.
Fünf der sechs Mitglieder der Gruppe „fotoform“ auf der photokina, Köln 1951.
Nach dem Krieg war Keetman zunächst ans Bett gefesselt. Doch als 1947 die Münchner Fotoschule wieder öffnete, konnte er dort die Meisterkurse besuchen. Die Aufnahmen dieser Zeit knüpfen noch an die neusachliche Fotografie an, bald nach dem Abschluss entwickelte Keetman jedoch eine eigene Handschrift: fragmentierter, bewegter, experimenteller – Ausdruck eines neuen, offenen Weltverständnisses. Entscheidend war seine Assistenz bei Adolf Lazi in Stuttgart, wo er gemeinsam mit seinem Freund Wolfgang Reisewitz an der Ausstellung Die Photographie 1948 mitwirkte. Lazis Versuch, Fotografie als Kamerakunst zu etablieren, enttäuschte viele: Die Konventionalität der Bildmotive stieß nicht nur bei Kritikern auf Ablehnung – auch die jüngere Generation, die im fotografischen Experiment ihre Ausdrucksform sah, wandte sich ab. Diese Erfahrung war ausschlaggebend für die Gründung der Gruppe fotoform am 17. September 1949 – unter den Gründungsmitgliedern: Keetman, Reisewitz, Otto Steinert, Toni Schneiders, Sigfried Lauterwasser und Ludwig Windstosser.
Das Ziel der Gruppe formulierte Keetman selbstbewusst:
„Was wir wollen, ist: den Konservatismus brechen, etwas Neues überzeugend bieten, den Leuten die Augen öffnen. Ich bin bestimmt alles andere als ein Fanatiker, aber wir wollen keine flaue Sache unter unserem neuen Namen.“
„Spiegelnde Tropfen“, 1950. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, erdachten sich die Fotografen eine Art Peer-Review-Verfahren: Neue Arbeiten wurden im Rundlauf zur kritischen Durchsicht verschickt – erhalten sind einige solcher Abzüge im Nachlass Peter Keetmans, versehen mit unverblümten Kommentaren der Kollegen. Auch wenn es keine festgelegten Regeln gab, kristallisierte sich durch diese Praxis eine gemeinsame Bildsprache heraus: Gestaltung durch Perspektive, Ausschnitt, Abstraktion und Experiment. Keetman selbst brachte es auf den Punkt:
„Der Name fotoform zeigt als Ziel das Bemühen um die Form als bezauberndes Spiel von Licht, Linie und Fläche.“
„Luftblasen im Eis“, 1964. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
Otto Steinert, der sich zunehmend als Sprachrohr der Gruppe etablierte, prägte 1951 mit einer gleichnamigen Ausstellung den Begriff »Subjektive Fotografie«. Mit ihm grenzte er sich bewusst vom totalitären Gestaltungsanspruch der nationalsozialistischen Ästhetik ab und rehabilitierte das fotografische Experiment als Ausdruck freier, individueller Bildgestaltung. Die Ausstellung in Saarbrücken avancierte zur bedeutendsten Fotoausstellung der Nachkriegsjahre und hatte internationale Strahlkraft. Keetman war unter anderem mit seinen Spiegelnden Tropfen mit und einer Lichtpendelschwingungen vertreten.
„Karwendel bei untergehendem Mond und aufgehender Sonne“, Tirol 1959. © Peter Keetman / Stiftung F.C. Gundlach
In den folgenden Jahrzehnten war Keetman mit regelmäßigen Veröffentlichungen in allen maßgeblichen Fotozeitschriften präsent, nahm an zahlreichen Gruppenausstellungen teil und arbeitete für Werbung und Industrie. Für sein Schaffen wurde er 1991 mit dem Kulturpreis der Deutschen Gesellschaft für Photographie geehrt. Seit seinem Tod im Jahr 2005 verwahrt die Stiftung F.C. Gundlach wesentliche Teile seines Nachlasses sowie seine Bildrechte; das Museum Folkwang besitzt das Negativarchiv sowie Arbeitsabzüge. Zum 100. Geburtstag 2016 widmeten ihm das Museum Folkwang und die Stiftung F.C. Gundlach eine große Retrospektive, die anschließend in den Deichtorhallen Hamburg und im Kunstfoyer München zu sehen war. Einen Einstieg in sein Werk bietet der begleitende Katalog Gestaltete Welt – ein sprechender Titel für ein fotografisches Œuvre, das auf der Suche nach neuen Formen eine zeitlose Gültigkeit gewinnt.