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Aufbruch ohne Ziel...

Annemarie Schwarzenbach | Entgleister Bahnwaggon bei Mbanza Ngungu (Thysville), Belgisch-Kongo (heute Demokratische Republik Kongo), 1941–1942 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Welche Menschen haben, heute, noch Pässe? – Welche Menschen können noch reisen – aufbrechen, Abschied nehmen, wiederkehren, wie es ihnen beliebt? – und welche Menschen wollen es noch?

Annemarie Schwarzenbach, "Ein Artikel über die Schweiz" (1940), in: An den äussersten Flüssen des Paradieses: Porträt einer Reisenden. Eine Textcollage von Roger Perret, Basel: Lenos Verlag, 2016, S. 289

Annemarie Schwarzenbach | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Annemarie Schwarzenbach Schriftstellerin, Journalistin, Fotografin, Reisende, Kosmopolitin war eine der schillerndsten und widersprüchlisten Figuren der modernen Schweizer Kulturgeschichte. Heute wäre sie wahrscheinlich Influencerin, die alle begeisterte und unendlich viele Follower hätte, weil sie als Frau einfach macht und überall hinreist, wo und wann sie gerade will.

Annemarie Schwarzenbach | Zwischen Isfahan und Schiraz, Iran, 1935 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Die Natur ist hier so stark, dass sie einen tötet. Man müsste aufhören, ein Mensch zu sein, an die menschlichen Bedingungen gebunden. Man müsste ein Stück Wüste und ein Stück Gebirge werden können, und ein Streifen Abendhimmel. Man müsste sich dem Land anvertrauen und darin aufgehen.

Annemarie Schwarzenbach, "Fast dasselbe Leiden" (o.J.), in: Bei diesem Regen: Erzählungen, hg. von Roger Perret, Basel: Lenos Verlag, 2008, S. 137

Annemarie Schwarzenbach | Hafen von Massawa, Italienisch-Ostafrika (heute Eritrea), 1939–1940 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Annemarie Schwarzenbach verstand sich eigentlich als Schriftstellerin, war aber auch eine Pionierin der Reportagefotografie in der Schweiz. Rund 300 Textbeiträge von ihr erschienen zu Lebzeiten in Schweizer Zeitschriften und Zeitungen, die ab 1933 von eigenen Bildern begleitet wurden. Die Mehrzahl ihrer Fotografien blieben jedoch unveröffentlicht – die Qualität und der Umfang ihrer Fotografien sind bisher nur wenig bekannt. Die Ausstellung basiert auf dem rund 7'000 Fotografien umfassenden Nachlass Annemarie Schwarzenbachs, der im schweizerischen Literaturarchiv in Bern aufbewahrt wird und öffentlich zugänglich ist. In der Ausstellung "Aufbruch ohne Ziel" hat man nun einen kleinen Einblick in ihr Werk, das vor allem auf Reisen zwischen 1933 und 1942 nach Vorder- und Zentralasien, in die USA, durch Europa und nach Zentral- und Nordafrika entstanden ist. Ihre Tätigkeit als Journalistin, selbstverständlich auch ihre grossbürgerliche Herkunft und ihr Status als Diplomatengattin ermöglichten ihr bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges eine für diese Zeit aussergewöhnliche Reisefreiheit.

Annemarie Schwarzenbach | Hafen von Palma de Mallorca, Spanien, 1936 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Reisen ist Aufbrechen ohne Ziel, nur mit flüchtigem Blick umfängt man ein Dorf und ein Tal, und was man am meisten liebt, liebt man schon mit dem Schmerz des Abschieds. Es gibt eine andere Art des Reisens: mit dem Baedeker in der Hand und dem fertigen Programm in der Tasche, da ist die Strecke zwischen der Kathedrale von Chartres und dem berühmten Seebad Biarritz nur eine lästige Unvermeidlichkeit, und man weiss, was einem die Unternehmung wert ist und was man von ihr erwarten darf. Aber der Zauber, unterwegs zu sein, das Geheimnis der Namen, die sich erst mit Inhalt und Leben füllen, das Wirklichkeitwerden eines Traums, das Entzücken der Entdeckung!

Annemarie Schwarzenbach, "Ankunft in Mallorca", in National-Zeitung, 11.06.1936

Annemarie Schwarzenbach | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Zur Ausstellung hat Lars Müller Publishers "Aufbruch ohne Ziel" als erste Publikation, die sich ausschliesslich dem bisher wenig bekannten fotografischen Werk Schwarzenbachs widmet, publiziert. Es spiegelt das Spannungsfeld hochaktueller Themen: Identität und Heimat, Individualität und Gemeinschaft, der Aufbruch aus traditionellen Geschlechterrollen und das Verhältnis zwischen Natur und Kultur, Tradition und Fortschritt.

Annemarie Schwarzenbach | Nekropole Dargavs in Nordossetien, Sowjetunion (heute Russland), 1933–1934 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Das Vorwort in der Publikation hat Dr. Nina Zimmer (Direktorin Kunstmuseum Bern – Zentrum Paul Klee) geschrieben und erwähnt warum die Ausstellung dem Zentrum Paul Klee entspricht: "Ihr Werk ermöglicht, Moderne und Gegenwart in einen Zusammenhang zu stellen – und wirft kritische Fragen zu Themen wie Nationalismus, Heimat und Identität, Geschlechterrollen und -bilder, Individualität und Kollektivität, Fortschritt und Modernität auf, die noch heute aktuell sind." Weitere Text in der Publikation sind von Martin Waldmeier (Annemarie Schwarzenbach als Fotografin), Barbara Wiegand-Stempel (Bilder schreiben), Mirco Melone (Fotohistorische Rahmenbedingungen), und Katharina Sykora (Von sich aus ins Weite).

Annemarie Schwarzenbach | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Das gewagte Unterfangen Annemarie Schwarzenbach im Rahmen einer musealen Ausstellung als Fotografin zu präsentieren, wie es Martin Waldmeier nennt ist absolut gelungen und gibt einen kleinen Einblick in das Leben Annemarie Schwarzenbachs und macht neugierig auf mehr. Für den Museumsbesuch sollte man sich genügend Zeit nehmen, um auch die verschiedenen Hörstationen und die beiden Projektionen in Ruhe aufnehmen zu können.

Annemarie Schwarzenbach | Überquerung des az-Zab al-Kabir (Grosser Zab), Irak, 1935 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Annemarie Schwarzenbach (1908 – 1942) ist in einer wohlhabenden Zürcher Industriellenfamilie aufgewachsen. Sie ist das dritte Kind des Textilfabrikanten Alfred Emil Schwarzenbach und Renée Schwarzenbach-Wille, Tochter des Generals Ulrich Wille[1]. Sie studiert in Zürich und Paris Geschichte, Philosophie und Psychologie.

1931; Zieht sie nach Berlin und schliesst sich der literarischen Bohème an und freundet sich mit Klaus und Erika Mann[2] an. Sie nimmt rege am Nachtleben teil und kommt erstmals mit Drogen in Kontakt. In dieser Zeit erscheint ihr erster Roman "Freunde um Bernhard".

© Fotostiftung Schweiz. Die Fotos von Marianne Breslauer werden mit freundlicher Genehmigung der Fotostiftung Schweiz angezeigt.

1933; bricht sie mit der Fotografin Marianne Breslauer [3]zu ihrer ersten journalistischen Reise nach Spanien auf. Im gleichen Jahr bricht sie auf eine Autoreise über die Türkei nach Syrien, in den Irak und den Iran, wo sie an archäologischen Grabungen teilnimmt und sich erstmals als Fotografin betätigt auf. Ihre "Lyrische Novelle" wird publiziert.

1934: Weil sie sich an der von Klaus Mann gegründeten Emigrantenzeitschrift "Die Sammlung" finanziell beteiligt, untersagt ihr die nationalsozialistische Regierung den Aufenthalt in Deutschland. Ein Haus in Sils-Baselgia wird ihr ständiger Wohnsitz in der Schweiz. Mit Klaus Mann besucht sie im August den Allunionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau und reist weiter in den Süden Russlands und weiter bis nach Teheran.

Annemarie Schwarzenbach | Claude Clarac, Kasbah Oudaya, Rabat, Marokko, 1942 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

1935 reist sie im Mai zum zweiten Mal in den Iran und heiratet den französischen Diplomaten Claude Clarac[4] und verbringt den Sommer in einem Hochtal in der Nähe von Teheran. Krankheit und Drogenkonsum zwischen sie im Herbst in die Schweiz zurück zu kehren.

Annemarie Schwarzenbach | Lumberton, North Carolina, USA, 1936 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

1936 reist sie in die USA. In Washington besucht sie das Archiv der Farm Security Administration und reist mit der amerikanischen Fotografin Barbara Hamilton-Wright [5]die die Industriegebiete Pennsylvanias zwischen Washington und Pittsburgh.

1937 kehrt sie aus den USA zurück und reist im Sommer über das Deutsche Reich, Ostpreussen und die Baltischen Staaten bis nach Moskau. Im September reist sie wieder in die USA und fährt mit Barbara Hamilton-Wright durch das ländliche Gebiet von Virginia, North und South Carolina, Georgia, Tennessee und Ohio.

1938 fährt sie durch Österreich bis nach Prag, wo sie die nationalsozialistische Expansionspolitik mit eigenen Augen erlebt und dokumentiert. Basierend auf dem Nachlass des verunglückten Schweizer Bergsteigers erscheint ihr erfolgreichstes Buch "Lorenz Saladin, ein Leben für die Berge".

Annemarie Schwarzenbach | Lar-Tal im Elburs-Gebirge, Iran, 1935 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

1939 reist sie mit der Genfer Sportlerin, Ethnografin und Schriftstellerin Ella Maillart [6]über den Balkan, die Türkei, den Iran und Afghanistan bis nach Indien. Diese Reise wird von den Drogenproblemen Annemarie Schwarzenbachs überschattet, deshalb trennen sich wohl die Wege der beiden Frauen in Kabul.

1940 reist sie wieder in die USA und lernt in New York die Schriftstellerin Carson McCullers kennen. In dieser Zeit wird ihr Roman "Das glückliche Tal" veröffentlicht. Nach einem Zusammenbruch wird Annemarie Schwarzenbach in eine Klinik eingewiesen.

Annemarie Schwarzenbach | Frau Goebel in Mbanza Ngungu (Thysville), Belgisch-Kongo (heute Demokratische Republik Kongo), 1941–1942 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

1941 wird sie aus der Klinik entlassen und kehrt in die Schweiz zurück. Nach kurzer Zeit bricht sie über Lissabon weiter in den Belgisch-Kongo (heutige demokratische Republik Kongo) auf und hält sich unter anderem auf der Schweizer Plantage "Molanda" im Kongobecken auf. In dieser Zeit schreibt sie den Roman "Das Wunder des Baums", der erst posthum veröffentlicht werden wird.

1942 hält sie sich in Marokko und Portugal auf. Im September zieht sie sich beim einem Fahrradunfall in Sils schwere Kopfverletzungen zu und stirbt unter nicht ganz geklärten Umständen am 15. November.

Annemarie Schwarzenbach | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Das nach den Plänen von Renzo Piano[7] erbaute Zentrum Paul Klee wurde 2005 eröffnet. Im Mittelpunkt der Kulturinstitution stehen Person, Leben und Werk von Paul Klee. Der auch als Musiker, Pädagoge und Dichter wirkende Klee zählt heute zu den bedeutendsten Künstlern des 20. Jahrhunderts. Mit dem Zentrum Paul Klee erhält er in der Stadt Bern, in der er die Hälfte seines Lebens verbrachte, ein Denkmal mit internationaler Ausstrahlung. Ermöglicht wurde das rund 125 Millionen Franken teure aussergewöhnliche Kulturzentrum durch das Zusammengehen der öffentlichen Hände und Privater. Letztere sind die Familie Klee, insbesondere Felix Klee, Livia Klee und Alexander Klee, die Familie des renommierten orthopädischen Chirurgen Prof. Dr. Maurice E. Müller [8]und seiner Gattin Martha Müller-Lüthi, private Sammlerinnen und Sammler sowie Partner aus der Wirtschaft.

Annemarie Schwarzenbach | Mount Pleasant, Pennsylvania, USA, 1937 | Schweizerisches Literaturarchiv | Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Nachlass Annemarie Schwarzenbach

Lars Müller Publishers wurde 1983 vom Designer Lars Müller gegründet. Mit sorgfältig redigierten und gestalteten Publikationen zu Architektur, Design, Fotografie, zeitgenössischer Kunst und Gesellschaft hat sich der Verlag weltweit - nicht nur in Fachgebieten - einen Namen gemacht. Das Verlagsprogramm spiegelt Müllers eigene vielfältige Interessen wider. Es dokumentiert historische Entwicklungen und zeitgenössische Phänomene, indem es überzeugende Arbeiten aus den Bereichen Bildende Kunst, Objekt- und Umweltgestaltung vorstellt und deren gesellschaftliche und kulturelle Relevanz erforscht. Lars Müller arbeitet eng mit seinen Herausgebern und Autoren zusammen, um bedeutende Publikationen von grosser Eigenständigkeit und auf höchstem Niveau zu produzieren. Lars Müller Publishers ist Mitglied von SWIPS Swiss Independent Publishers und der MOTOVUN Group of International Publishers. Lars Müller ist Einzelmitglied der ICAM (International Confederation of Architectural Museums).

Die Ausstellung "Aufbruch ohne Ziel" ist noch bis 3. Januar 2021 im Zentrum Paul Klee zu sehen.

Die Publikation "Aufbruch ohne Ziel" kann direkt bei Lars Müller Publisher bezogen werden.

[1] Ulrich Wille (1848, in Hamburg – 1925, in Meilen) war General der Schweizer Armee während des ersten Weltkrieges.

[2] Klaus Mann (1906, in München – 1949, in Cannes) war der älteste Sohn von Thomas Mann. Er begann seine literarische Laufbahn in der Zeit der Weimarer Republik als Aussenseiter. Nach seiner Emigration aus Deutschland im Jahr 1933 fand er eine wesentliche Neuausrichtung: Er wurde zum kämpferischen Literaten gegen den Nationalsozialismus.

[3] Marianne Breslauer (1909, in Berlin – 2001, in Zürich) war eine deutsche Fotografin zur Zeit der Weimarer Republik und Kunsthändlerin.

[4] Claude Clarac, auch Achille Clarac (1903, in Nantes – 1999 in Oudon) war französischer Diplomat. Er studierte Rechtswissenschaft und trat 1930 in den auswärtigen Dienst. 1934 wurde er Botschaftssekretär in Teheran. Bis 1942 war er Konsul von Frankreich in Tetuan.

[5] Barbara Hamilton-Wright war eine amerikanische Fotografin.

[6] Ella Maillart (1903 in Genève – 1997 in Chandolin) wuchs als Tochter von Paul Maillart, einem wohlhabenden Pelzhändler und Dagmar Klim auf. Von ihrer dänischen Mutter übernahm sie früh deren Begeisterung für den Sport, insbesondere für das Segeln und den Skilauf.

[7] Renzo Piano (*1937) wuchs in einer Familie von Bauunternehmern auf. Seine Leidenschaft für Architektur verdankt er seinem Vater. Renzo Piano studierte an der Università degli Studi Firenze und erlangte 1964 das Diplom am Politecnico di Milano. Sein Ruf als Museumsarchitekt erhielt Renzo Piano mit Projekten wie der Menil Collection in Houston, Texas, der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel, dem Tjibaou-Kulturzentrum in Nouméa auf der Südseeinsel Neukaledonien, dem Nasher Sculpture Center in Dallas, Texas, und dem 2005 fertiggestellten Zentrum Paul Klee in Bern. Zudem gestaltete er in Italien zwei grosse Auditorien: das Auditorium Niccolò Paganini in Parma und das Auditorium Parco della Musica in Rom.

[8] Prof. Dr. med. Maurice E. Müller (1918 – 2009) wuchs als ältestes Kind einer fünfköpfigen Familie in Biel auf. Er studierte an der Université de Neuchâtel, der Université de Lausanne und der Universität Bern Medizin. Sein Studium wurde durch einen längeren Aktivdienst im zweiten Weltkrieg unterbrochen. Nach der Tätigkeit als Chirurg und Orthopäde an der Universitätsklinik Balgrist in Zürich ging er 1946 für eine einjährige Mission nach Abessinien (heutiges Äthiopien). Er gilt als der Pionier der Osteosynthese.