sichtbar.art

View Original

14e Prix Carmignac du photojournalisme…

Jalalabad, Nangarhar, Afghanistan, 12. Februar 2024. Eine Familie, die vor kurzem aus Pakistan ausgewiesen wurde, hat sich vorübergehend in einem Vorort von Jalalabad, im Osten Afghanistans, niedergelassen. Hunderttausende Afghanen waren gezwungen, Pakistan aufgrund der anhaltenden Repressionen gegen illegale Ausländer zu verlassen, einige von ihnen, nachdem sie Jahrzehnte in Pakistan gelebt hatten. Frauen und Mädchen sind am stärksten von den Folgen der Zwangsumsiedlung betroffen, z.B. mit hohen Raten von Kinderehen. © Kiana Hayeri pour Fondation Carmignac

Der 14. Prix Carmignac du photojournalisme ist der Situation von Frauen und Mädchen in Afghanistan seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 gewidmet und wird der kanadisch-iranischen Fotojournalistin Kiana Hayeri und der französischen Wissenschaftlerin Mélissa Cornet verliehen.

Die Reportage von Kiana Hayeri und Mélissa Cornet konnte mit der Unterstützung der Fondation Carmignac während sechs Monaten realisiert werden. In den letzten Monaten reisten Kiana und Mélissa durch sieben Provinzen Afghanistans, um die Lebensbedingungen zu untersuchen, die die Taliban Frauen und Mädchen auferlegt haben und die nach den Recherchen von Amnesty International ein mögliches Verbrechen gegen die Menschlichkeit der geschlechtsspezifischen Verfolgung darstellen könnten. Sie trafen über 100 afghanische Frauen, die nicht zur Schule gehen durften und zu Hause eingesperrt wurden, Journalistinnen und Aktivistinnen, die hartnäckig für ihre Rechte kämpfen, Mütter, die entsetzt sind, dass sich die Geschichte ihrer Töchter wiederholt, und Mitglieder der LSBTIQ+ Gemeinschaft. Sie dokumentierten, wie die Taliban im Rahmen einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft Frauen systematisch aus dem öffentlichen Leben entfernten, indem sie ihnen ihre grundlegendsten Rechte vorenthielten: den Besuch von Schulen und Universitäten, Arbeit, Kleidung nach Wunsch, den Besuch von öffentlichen Bädern und Parks und sogar Schönheitssalons.

 Die auffälligste Veränderung, die Kiana und Mélissa seit August 2021 beobachtet haben, ist der allgemeine Verlust der Hoffnung unter den Frauen, dass sich ihre Situation verbessern könnte: Ihre Träume von Bildung und Integration in die Gesellschaft sind vor ihren Augen zerplatzt, sie sind die ersten Opfer der Wirtschafts- und Nahrungsmittelkrisen und des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems geworden. Eine Aktivistin, die in Afghanistan keine Zukunft mehr sah und das Land verliess, sagte: «Wir haben alle Freude vergessen, wir wissen nicht, wo wir sie finden sollen. Ich habe meine ganze Motivation verloren, ich weine allein und heimlich. Es ist, als hätte man mich in einem Raum eingesperrt, den ich nicht verlassen darf. Ich finde nicht einmal mehr Geschmack am Essen».

Um diese äusserst heikle Situation zu dokumentieren, nutzten Kiana und Mélissa verschiedene Medien, wie Fotos, Zeichnungen, Videos und Kunstwerke, die in Zusammenarbeit mit afghanischen Teenagern entstanden sind.

Kabul, Kabul, Afghanistan, 29. Februar 2024. Weibliche Journalisten arbeiten im Büro eines auf Frauen ausgerichteten Mediums. Seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 wurde die afghanische Medienlandschaft drastisch dezimiert.

Laut Reporter ohne Grenzen verschwanden innerhalb von drei Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 43% der afghanischen Medien. Seitdem haben mehr als zwei Drittel der 12'000 Journalisten, die 2021 im Land waren, den Beruf aufgegeben.

Für Journalistinnen ist die Situation noch viel schlimmer: gezwungen, ihr Gesicht zu bedecken, mit einer männlichen Begleitperson zu reisen, keine Interviews mit Regierungsbeamten zu führen, Belästigungen und Drohungen ausgesetzt, haben laut Amnesty International zwischen August 2021 und August 2023 mehr als 80% von ihnen ihre Arbeit aufgegeben.

Ohne weibliche Reporterinnen wird es immer schwieriger, über die Situation der afghanischen Frauen in einer Gesellschaft zu berichten, in der Männer nur selten Interviews mit ihnen führen dürfen. Themen, die Frauenrechte betreffen, sind besonders heikel und der Druck auf die Medien und Journalisten hat die Selbstzensur zur neuen Norm für die Berichterstattung werden lassen. © Kiana Hayeri pour Fondation Carmignac

Kiana Hayeri wurde 1988 in Teheran geboren und zog als Teenager nach Toronto. Um sich an die Herausforderungen der neuen Umgebung anzupassen, wählte sie die Fotografie als Mittel, um die sprachliche und kulturelle Kluft zu überbrücken. Im Jahr 2014, einen Monat vor dem Abzug der NATO-Streitkräfte, zog sie nach Kabul und blieb 8 Jahre dort. Ihre Arbeit befasst sich mit komplexen Themen, Migration, Adoleszenz, Identität und Sexualität in Konfliktgesellschaften. 2020 erhielt Kiana den Tim Hetherington Visionary Award für ihr Projekt über die Gefahren des Amateurjournalismus «hit & run». Im selben Jahr wurde sie mit dem James Foley Preise für Konfliktberichterstattung ausgezeichnet. 2021 erhielt sie die renommierte Robert Capa Goldmedaille für ihre Serie «Where Prison is a Kind of Freedom», die das Leben afghanischer Frauen in den Gefängnissen von Herat, Afghanistan, dokumentiert. 2022 gehörte Kiana zum Journalistenteam der New York Times, deren Reportage «The Collapse of Afghanistan» mit dem Hal Boyle Award ausgezeichnet wurde und für den Pulitzer-Preis für internationale Berichterstattung ausgewählt wurde. Im selben Jahr gewann sie den Leica Oscar-Barnack-Preis für ihre Reportage «Promises Written On the Ice, Left In the Sun», die einen Einblick in die Privatsphäre von Afghanen aus allen Teilen der Welt zeigt. 2024 veröffentlichte sie «When Cages Fly», das für das Joop Swart Masterclass Programm ausgewählt wurde. Kiana Hayeri ist TED Fellow, National Geographic Explorer und regelmässige Mitarbeiterin der New York Times und National Geographic. Zurzeit lebt sie in Sarajevo, wo sie ihre Reportagen über den Balkan, Afghanistan und andere Regionen produziert.

Kabul, Kabul, Afghanistan, 17. Februar 2024. Eine private Schule im Westen von Kabul, in der Mädchen den amerikanischen Lehrplan in englischer Sprache absolvieren, aber kein offizielles afghanisches Bildungszertifikat erhalten oder die Universität in Afghanistan besuchen können, die für Frauen geschlossen ist. Dies ist ein seltener Fall, in dem es der Schule gelang, die lokale Genehmigung der Taliban zu erhalten, um ihre Aktivitäten mit weiblichen Teenagern zu unterbinden. 700 Schülerinnen lernen jeden Tag unter strengen Sicherheitsvorkehrungen an diesem Institut, während zwei bewaffnete Sicherheitskräfte aus der Gemeinde die Tür bewachen und die Mädchen einzeln ein- und ausgehen und ihre Rucksäcke am Eingang zurücklassen. Trotz der Angriffe von Selbstmordattentätern vor der Machtübernahme ist das Institut immer noch voll von Mädchen, deren Traum es nun ist, das Land zu verlassen und im Ausland zu studieren.

Trotz der Versprechungen der Taliban wurden die Mädchengymnasien nach dem Sturz nie wieder geöffnet. Bis heute dürfen Mädchen nur bis zur 6. Klasse zur Schule gehen und sind vom Besuch von Gymnasien und Universitäten ausgeschlossen. Untergrundschulen, die in Häusern, Moscheen oder alternativen Räumen untergebracht sind, bilden jedoch weiterhin Mädchen aus und gehen dabei ein hohes Risiko ein. © Kiana Hayeri pour Fondation Carmignac

Mélissa Cornet ist Wissenschaftlerin im Bereich Frauenrechte, lebt und arbeitet seit Januar 2018 in Afghanistan. Vor dem Fall von Kabul recherchierte sie u.a. über die wirtschaftliche Emanzipation von Frauen, ihre Beteiligung an Wahlen und dem Friedensprozess und die Gewalt gegen sie. Ab August 2021 reiste in weitere Provinzen, wo sie einzigartige Perspektiven aus dem Landesinneren auf die anhaltende Verschlechterung der Rechte von Frauen und Mädchen bot. Seitdem hat sie Artikel über die Auswirkungen der Nahrungsmittelkrise auf Frauen und Mädchen, ihre mögliche Integration in humanitäre Hilfsprogramme, die psychische Gesundheit von humanitären Helferinnen und Programme zur wirtschaftlichen Stärkung von Frauen in einem Land, in dem es ihnen nicht mehr erlaubt ist, zu studieren oder sich ohne männliche Begleitperson zu bewegen, veröffentlicht. Sie ist anerkannte Expertin für Frauenrechte in Afghanistan und wurde von zahlreichen französischen Zeitungen und internationalen Medien interviewt, darunter The Guardian, BBC, Voice of America, The Times und PBS (Frontline). Sie ist auf ABC News, MSNBC, France 24, BFM TV oder Arte zu sehen, Gastdozentin im britischen Unterhaus und am USIP (United States Institute for Peace) und hat einen Master in internationalen Beziehungen und internationalem Menschenrecht.

Distrikt Yamit, Badakhshan, Afghanistan, 10. Mai 2024. Kheshroos Tochter und ihre Cousine, beide Schülerinnen der 11. Klasse, begingen ein Jahr zuvor Selbstmord, indem sie sich ins Wasser stürzten, nachdem sie von der Schule verwiesen worden waren. Die Familie spielt in Pfützen zwischen Yak-, Pferde- und Ziegenherden vor den Bergen von Wakhan, einer Region, die bis 2021 nie von den Taliban kontrolliert wurde. © Kiana Hayeri pour Fondation Carmignac

Prix Carmignac du photojournalisme: aufgrund der Medienkrise und des Fotojournalismus rief Edouard Carmignac 2009 den Prix Carmignac du photojournalisme ins Leben, um Fotografinnen und Fotografen vor Ort zu unterstützen. Der Preis unterstützt jedes Jahr die Produktion einer investigativen fotografischen und journalistischen Reportage über Menschenrechtsverletzungen in der Welt und die damit verbundenen geostrategischen Herausforderungen. Der Prix Carmignac investiert finanzielle und personelle Mittel in die Produktion der Reportagen und ihrer Verbreitung durch eine Wanderausstellung und eine spezielle Website, um die Krisen und Herausforderungen der heutigen Welt ins Licht zu rücken.

Kabul, Kabul, Afghanistan, 3. Februar 2024. Mädchen spielen im Schnee im westlichen Teil von Kabul hinter einem Gebäude, abseits der Hauptstraße. Seit der Machtübernahme wurden die Rechte von Frauen und Mädchen, sich ohne männliche Begleitung zu bewegen oder in Parks zu gehen, eingeschränkt und es gibt nur noch wenige Möglichkeiten, Freude in ihrem täglichen Leben zu finden. Ein Schneesturm in einem ruhigen Viertel in den westlichen Vororten von Kabul bot eine solche Gelegenheit für eine Stunde gemeinsamen Spiels. Aber auch dann wird die Umgebung immer noch nach Anzeichen einer Taliban-Patrouille abgesucht. © Kiana Hayeri pour Fondation Carmignac

Die Fondation Carmignac wurde 2000 von Edouard Carmignac, einem Unternehmer und Vorsitzenden von Carmignac Gestion, gegründet. Heute hat sie drei Schwerpunkte: die Collection Carmignac, die mehr als 300 Werke zeitgenössischer Kunst umfasst, den Prix Carmignac du photojournalisme und die Villa Carmignac, die die Öffentlichkeit auf der Insel Porquerolles empfängt und Ausstellungen sowie ein künstlerisches Programm an einem Ort der Kunst mit 2000m² Ausstellungsfläche und 15 Hektar Garten inmitten eines geschützten Gebietes bietet.