sichtbar.art

View Original

Ballermann 5 Uhr 30...

© Stefan Flach

Die Strände menschenleer. Die Fenster verrammelt. Einsame Drängelgitter vor Lokalen. Es gibt vielleicht keinen merkwürdigeren Zeitpunkt für einen ersten Besuch am Ballermann als den Sommer 2020. Hochsaison, normalerweise Hochbetrieb. Tausende Menschen, die zusammen feiern wollen. Eine Gemeinschaft im dionysischen Ausnahmezustand – vereint in Schlager, Sangria und Sonnenbrand. Man kennt diese Bilder: Es ist irgendwas zwischen Karneval und einem liturgischen Ritual, das aus dem Ruder gelaufen ist…

Stefan Flach

© Stefan Flach

Das hatten wir noch nie – an den Stränden wird Spanisch gesprochen.

Ilka und Jörg, Auswanderer 

Ausgerechnet im Juli 2020 besucht Stefan Flach zum ersten Mal den Ballermann® auf Mallorca. Eigentlich wäre Hochsaison und man würde früh morgens die letzten Partygäste auf dem Weg ins Hotel antreffen, mittags die von der Sonne krebsrotgefärbten und braungebrannten Touristen am Stand liegen sehen und nachmittags die lachenden und für den Abend Pläne schmiedenden, leicht angesäuselten Jungs und Mädels an den Standbars hören. Nicht so im Sommer 2020… 

Der Strand ist menschenleer und die Bars, Clubs und Kneipen sind verriegelt…

© Stefan Flach

Ausfallerscheinungen
Wenn ich sage, ich trinke ja auch ein Bier, wir trinken ja auch was, man ist dann lockerer. Der Alkohol enthemmt natürlich bis zu einer gewissen Grenze. Ich will mal sagen, die meisten Leute, achtzig Prozent, die wissen auch mit dem Alkohol umzugehen. Dass es natürlich Ausfälle gibt, das ist ganz normal. Das ist aber ein gesellschaftliches Problem. Aber der Alkohol gehört einfach dazu, wie Musik.

André Engelhardt im Gespräch mit Sacha Szabo

"Ballermann 5 Uhr 30" zeigt leere Bars, Clubs und Strandabschnitte – neue Lost Places… Corona hat vieles verändert, die Massnahmen dagegen haben die Tourismusbranche hart getroffen und vielen den Boden unter den Füssen weggezogen.

Vielleicht macht diese Situation ein Umdenken möglich und Mallorca wird wieder mallorquinischer…

© Stefan Flach

Erinnerungslücken
[…] Die Thekentruppe brachte im Handgepäck die Kölsch-Fässer und die Tuppertöpfe voller Gulasch mit, weil sie der spanischen Grundverpflegung zutiefst misstraute. […] Treffpunkt der Truppe wird über die Jahre nach und nach der Balneario 6 am Strand, ein Badehäuschen, ursprünglich eine Umkleidekabine, wo auch für wenige Peseten Bier ausgeschenkt wird. Da der Merowinger sich gern einen "ballert" und danach Schwierigkeiten hat, das Wort "Balneario" auszusprechen, wird daraus Ballermann. "Irgendwann gegen Ende der 70er-Jahre muss das gewesen sein", sagt Ingo Wohlfeil, "leider können sich die Beteiligten nicht mehr genau erinnern."

Ciro Krauthausen, Mallorca Zeitung

In "Ballermann 5 Uhr 30" kommt auch André Engelhardt der Erfinder des Ballermanns zu Wort: [...] Ballermann findet im Grunde genommen nach wie vor in den Herzen und in der Vorstellung der Menschen statt. Ich muss den Leuten nur einen Ort geben, wo das stattfindet. Dann funktioniert das weiterhin. Man feiert sich selbst.

© Stefan Flach

Es ist überall so wie bei uns

Die Ausbreitung der Zivilisation über die Welt bedeutet: Nivellierung alles Fremden, Unerwarteten, Anfüllung mit Bekanntheitscharakteren. Es ist überall so wie bei uns, stellt der enttäuschte Tourist fest.

Fernando Pessoa[1] aus "Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares"

 

Stefan Flach hat nicht nur verlassene und verriegelte Orte vor die Linse genommen, sondern auch verschiedene Protagonisten*innen zu Wort kommen lassen; den Erfinder des Ballermanns André Engelhardt, die Die Welt Journalistin Marion Müller-Roth oder die mallorquinische Angestellte im Tourismusbereich Natalia Docolomansky. Es sind Worte, die einen nachdenklich stimmen oder ein Kopfschütteln bewirken.

© Stefan Flach

Deutsche Küche ist hier überall vertreten
Fast an jeder Ecke wird hier von deutschen Imbissbuden, Kneipen und Biergärten mit Bauernfrühstück, Curry-, Bock-, Weiss- und Bratwurst, Schaschlik, Schweinshaxe, Schnitzel, Zigeunersteak, Brezeln, Kölsch, Pils und Veltins teutonische Lebensart vermittelt.

Markus Mross, reiseinformationenweb.org

Stefan Flach (*1966) ist in Köln geboren, wo er heute lebt und arbeitet. Nach dem Besuch der Berufsgrundschule für Druck und Papier, der Fachoberschule für Gestaltung und des Zivildienstes im Bereich der Altenpflege erlangte er ein Diplom in Grafik Design an der Fachhochschule Niederrhein in Krefeld. Seit 2002 leitet er das Design Büro filter design und ist freischaffender Grafik Designer.

© Stefan Flach

André Engelhardt, Inhaber der Marken Ballermann® und Ballermann6® beschreibt begeistert in seiner Einleitung, den Ballermann nicht wie gewohnt als Ort zu sehen, sondern als Gefühl einer verbundenen Feier-Gemeinschaft von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Stand. Hier feiert der Bänker mit der Putzfrau, der Schalke Fan mit der Zahnärztin aus Hamburg. 

Sacha Szabo (*1969) ist in Freiburg geboren und lebt heute in Merzhausen. Nach dem Besuch der Waldorfschule in Freiburg studierte er Soziologie, Germanistik und Philosophie. Danach erlangte er ein Diplom in Kulturmanagement und absolvierte eine Zusatzausbildung zum Erlebnispädagogen. Seit 2002 arbeitet er im Institut für Theoriekultur. 

2019 wurde der Weissmann Verlag von Michael Weissmann, Peter Rosenthal und Stefan Flach gegründet, um eigene Buchprojekte zu realisieren. Die Themen wandern im Spektrum urbaner Poesie, künstlerische Gegenwartserfassung und fatalistischer Fotografie.

Das Buch "Ballermann 5 Uhr 30" (ISBN 978-3-949168-00-0) kann direkt beim Weissmann Verlag oder im Buchhandel bezogen werden.

[1] Fernando Pessoa (1888-1935), ist nicht nur der Begründer der modernen Dichtung Portugals, sondern eine der Schlüsselfiguren in der Entwicklung der zeitgenössischen Dichtung überhaupt. Er schuf Gedichte und poetische Prosatexte verschiedenster, ja widersprüchlichster Art, und Verkörperungen der Gegenstände seines Denkens und Dichtens: seine Heteronyme. Er gab seinem vielfältig gespaltenen Ich die Namen Alberto Caeiro, Ricardo Reis, Alvaro de Campos und eben Pessoa, das im Portugiesischen so viel wie "Person, Maske, Fiktion, Niemand" bedeutet. (Perlentaucher.de)