Die ausgestellten Fotografien spielen mit Reflexionen, Spiegeleffekten und Transparenzen, fangen den Moment ein oder betonen inszenierte Kompositionen und erforschen die emotionalen Qualitäten von Licht und Schatten. Die als chimärische Erzählung präsentierten Werke beider Künstlerinnen greifen ineinander und ihre Bilder loten die Tiefen des Unterbewusstseins aus, indem sie diese in einer bestimmten Umgebung oder einem bestimmten Rahmen aufstellen und ihre Figuren in metaphorischen Tableaus darstellen.
"Ein Bild kann eine unterdrückte Erinnerung hervorholen und einen bestimmten Moment viel schneller ins Gedächtnis rufen als Worte. Das ist möglich, weil unser Gehirn die 'Essenz' eines Bildes sehr gut speichern kann, indem es nicht nur das Motiv, sondern auch bestimmte visuelle Qualitäten festhält."[1] Bei beiden Künstlerinnen geht es um die Flüchtigkeit der Realität und um die Erinnerung. In ihren Arbeiten, die zwischen persönlicher, kultureller und kollektiver Identität oszillieren, geht es um das intime Zeugnis des Selbst bei Marianna Rothen und um das des Anderen bei Mona Kuhn.
Während Mona Kuhn in ihrem experimentellen Umgang mit dem Akt in enger Beziehung zu ihren Modellen arbeitet, indem sie ihnen die Freiheit des Ausdrucks in Bezug auf ihre Darstellung lässt, inszeniert Marianna Rothen sich und ihre Freunde in eigentümlichen Szenarien unter Verwendung von Archetypen und Idealen aus der Filmwelt.
Jede Szene ist wie ein visuelles Tagebuch gestaltet und wirkt durch Licht, Schatten und Reflexion wie aus Vergangenheit und Gegenwart zusammengefügt. Die Fotografien, die reich an Metaphern und harmonischen Details sind, spielen sowohl mit der Konstruktion von Raum als auch von Zeit. Schatten vervielfachen sich, Muster antworten, es ist fast so, als ob unser Sehen unsere Erinnerung konfrontiert und uns auffordert zu hinterfragen, was es bedeutet, einen Raum nicht nur zu sehen, sondern in ihm zu existieren.
Daher ist die Betrachtung der Fotografien der beiden Künstlerinnen wie die Betrachtung einer Vielzahl von Geschichten, die wir mit unserer eigenen inneren Erfahrung in Verbindung bringen können. Indem sie die Erinnerung an unbewusste Erfahrungen wachrufen, beleuchten sie eine Geschichte, die uns allen gehören könnte. Indem wir die Grenzen zwischen Abwesenheit und Anwesenheit, zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen, zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen verwischen, rufen wir Erinnerungen an die Wahrnehmung wach.
Mona Kuhn (geb. 1969, São Paulo, Brasilien) ist eine Fotografin und Medienkünstlerin. Kuhn, die für ihre zeitgenössischen Darstellungen bekannt ist, gilt als eine der führenden Künstlerinnen in der Welt des figurativen Diskurses. In ihrer mehr als zwanzigjährigen Karriere konzentriert sich Kuhns Praxis auf die Geheimnisse der physischen und metaphysischen Präsenz der Figur. Kuhn betrachtet die Figur und die Darstellung als eine Plattform für unsere komplexen Emotionen, Wünsche und Ängste. Während sie ihren fotografischen Stil festigte, schuf Kuhn ihren einzigartigen Ansatz für den Akt, indem sie Freundschaften mit ihren Motiven entwickelte und eine Reihe von spielerischen visuellen Strategien einsetzte, die natürliches Licht und minimalistische Einstellungen nutzen, um ein Gefühl des Wohlbefindens zwischen der menschlichen Figur und ihrer Umgebung hervorzurufen. Ihr Werk ist natürlich, ruhig und eine Neuinterpretation des Aktes im Kanon der zeitgenössischen Kunst.
Kuhns Arbeiten wurden im Le Bal und im Louvre Museum, Paris; in der Royal Academy of Arts, London; im Musée de l'Elysée, Lausanne; im Leopold Museum, Wien und im Australian Centre for Photography, Sydney, ausgestellt. Ihre Arbeiten befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen weltweit, darunter im J. Paul Getty Museum, Los Angeles; Los Angeles County Museum of Art, Kalifornien; Hammer Museum, Los Angeles; Perez Art Museum, Miami; George Eastman Museum, Rochester, New York; Museum of Fine Arts, Houston; Kiyosato Museum of Photographic Arts, Japan und in der di Rosa Foundation, Napa, Kalifornien. Steidl hat bisher sieben Monografien über Kuhns Werk veröffentlicht. Die Monografie, She Disappeared into Complete Silence, enthält einen Text von Salvador Nadales, Kurator am Museo Reina Sofia in Madrid, Spanien. In ihrer neuesten Monografie, Kings Road erkundet Mona Kuhn lyrisch die Bereiche von Zeit und Raum innerhalb der architektonischen Elemente des Schindler House in Los Angeles. Die Künstlerin lebt und arbeitet in Los Angeles, Kalifornien.
She Disappeared into Complete Silence, welches zwischen 2014 und 2019 zusammen mit Jacintha, einer Freundin der Familie, in einem Glashaus am Rande des Joshua Tree National Park entstand, ist nach der ersten Monografie von Louise Bourgeois benannt und erkundet den weiblichen Akt, der von der ätherische Pracht der "Goldenen Stunde" in der Wüste befreit wird. Die einstöckige, minimalistische Struktur spiegelt die goldenen Farbtöne der Umgebung wider und wird so zu "einer Erweiterung meiner eigenen Kamera und Optik", so Kuhn. "Diese lichtdurchlässigen Oberflächen boten eine grossartige Kulisse für Reflexionen und wirkten manchmal wie ein Prisma." Die menschliche Figur, Monas Freundin und Mitarbeiterin Jacintha, erscheint wie eine surrealistische Fata Morgana, fragmentiert und undeutlich, zuweilen in Schatten getaucht oder überbelichtet. Die Glas- und Spiegelfassade des Gebäudes dient als optische Ebene, als Erweiterung der Kamera und des Objektivs der Künstlerin. Das Licht wird in sich brechende Farben aufgespalten, die Wüstenvegetation wächst seitwärts, innen ist aussen und aussen innen. Kuhn forciert einen gewissen Desorientierungseffekt, indem sie Metallfolien als zusätzliche Oberfläche einführt, was zuweilen zu rein abstrakten Ergebnissen führt. She Disappeared into Complete Silence markiert Kuhns zunehmende Verwendung von Techniken, die scheinbar Figuren, Abstraktionen und Landschaften ineinander verschmelzen lassen.
Marianna Rothen (geb. 1982, Kanada) nutzt Fotografie und Film, um konventionelle Vorstellungen von weiblicher Schönheit und Geschlechterpolitik zu untersuchen. Mit 15 Jahren arbeitete Rothen als Fotomodell und verbrachte später mehrere Jahre damit, die Welt zu bereisen und ihre Erfahrungen fotografisch zu dokumentieren. Derweil sie traditionelle fotografische Verfahren mit digitalen Medien kombiniert, schafft sie Bilder, die ein Gefühl von Geheimnis und Unbehagen hervorrufen, indem sie sich auf weibliche Charaktere im Rahmen einer nostalgischen Dystopie konzentriert. In Kombination mit zerfallenen Innenräumen, Wildnis und verführerischen Motiven strahlen Rothens Arbeiten einen Hauch von Geheimnis und Unzufriedenheit aus, die Teil einer umfassenderen Erzählung werden.
Einzelausstellungen ihrer Arbeiten fanden in der Steven Kasher Gallery in New York, der Little Black Gallery in London, der Galerie Stephan Witschi in Zürich, der Galerie Ingrid Deuss in Antwerpen und Kaune Contemporary in Köln statt. Ihre Arbeiten waren Gegenstand von drei Monografien: Snow and Rose & Other Tales, Shadows in Paradise und Mail Order, die alle bei b.frank books erschienen sind. Rothen’s Arbeiten wurden bereits im The New Yorker, Collector Daily, New York Magazine, The Paris Review, in der Vogue, in Dveight, Photoworks, Elephant, Interview, AnOther, Upstate Diary, Huffington Post und Art Daily veröffentlicht. Die Künstlerin lebt und arbeitet in New York.
Die ausgestellten Fotografien aus der Serie Shadows in Paradise beziehen sich auf drei Filme: Persona von Ingmar Bergman, Drei Frauen von Robert Altman und Mulholland Drive von David Lynch. Die Serie wurde entwickelt, um Figuren aus Rothens erster Monografie Snow and Rose & Other Tales, erschienen 2014, wieder aufzugreifen und neu zu gestalten. In einer Welt ohne Männer schienen diese Frauen überschwänglich, aber hier in ihren "Shadows"-Fotografien, ist die Fantasie komplexer: Ihre Probandinnen stellen fest, dass Männer und Männlichkeit immer noch in der Kultur lauern, die sie konsumieren, auch wenn keine Männer physisch anwesend sind - in Zeitungsüberschriften, auf der Rückseite von Zeitschriftencovern, in Gemälden an einer Wand. Rothen, weitere Models und ihre Freundinnen inszenieren in den Fotografien melancholische Szenen, in denen sie sich selbst in Spiegeln betrachten oder in die Ferne starren. Jede Frau setzt sich mit ihrer Selbstwahrnehmung auseinander.
Gastautorin
Alice Le Campion war mehrere Jahre im Galeriebereich tätig, vorwiegend in der Förderung von aufstrebenden internationalen Künstlern, bevor sie in ihr bevorzugtes Medium der Fotografie eintauchte. Sie verfügt über umfangreiche Erfahrungen in der Akquisition, die sie während ihrer Tätigkeit als Leiterin einer privaten Fotokunstsammlung in Berlin, Deutschland, gesammelt hat. Sie hat zahlreiche Fotoausstellungen etablierter Fotografen wie Jeanloup Sieff und Erwin Blumenfeld sowie Gruppenausstellungen kuratiert, die weibliche Repräsentationen betonen und sich an feministischen Theorien und Geschichten des Geschlechts orientieren. Neben ihre Tätigkeiten als Kuratorin mit Schwerpunkt Fotografie arbeitet Alice als Spezialistin in der Abteilung Fotografie eines Auktionhauses in New York.
Die Ausstellung Memories of Perception kann noch bis 7. Mai 2022 in der Galerie Stephan Witschi in Zürich besucht werden.
[1] Zitat Dr Daniel Glaser, Leiter Wissenschaftsgalerie, King’s College London