Das vierte Drittel und die Poesie der Angst

© Reto Camenisch

Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eindringt. Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī

© Reto Camenisch

Nach der Lektüre des eindrücklichen und berührenden Vorworts von Reto Camenisch selbst, wird klar, warum das Buch Das vierte Drittel und die Poesie der Angst mit düster und trist anmutenden schwarz-weiss Bildern beginnt und übergeht in eine tiefe Farbigkeit, die man von Camenisch so nicht erwartet. Folgt man den Bildern spürt man den langen mühseligen Weg zu einer inneren Heilung, nach langer schmerzvoller Krankheit. Nach einer Krebsdiagnose, einigen operativen Eingriffen, Chemo- und Bestrahlungstherapien war sein Körper am Ende seiner Kräfte. Deshalb hat er sich im Dezember 2019 in eine 6-wöchige Therapie in ein Ayurveda-Hospital[1] in Südindien begeben. Wie oft bei alternativmedizinischen Behandlungen verschlimmert sich die Situation und wird erst nach einer gewissen Zeit besser, so auch bei Reto Camenisch.  

"Und nie ist eine Sache nur ein Ding!" Gemächlichen Schrittes veränderte sich meine Wahrnehmung, und es offenbarten sich auf einmal nicht nur andere Bilder, sondern auch die Distanz zu ebendiesen. Bisher hatten Farben in meiner Arbeit kaum Bedeutung, doch auf einmal wirkten sie mit grosser Kraft auf mich ein, trugen mich förmlich durch den Tag und - so klebrig und simpel es klingen mag - verursachten pure Freude. Um nichts möchte ich diese Erfahrung missen… Reto Camenisch

© Reto Camenisch

Daniel Blochwitz schreibt in seinem Text Kaputt über das Kaputte, Beschädigte und Verletzte und nimmt Bezug zur Bedeutung der Fotografie im Zusammenhang mit Erinnerung und Tod.  

Die Legende der Schutzheiligen der Fotografie, der heiligen Veronika, geht dann auch auf die Überlieferung zurück, dass auf dem Tuch, das Veronika dem todgeweihten Jesus reichte, damit dieser sich sein Gesicht abwischen konnte, auf mysteriöse Weise sein Abbild erschien. Durch die Ikone bleibt der Nachwelt das Gesicht einer verehrten Person in Erinnerung… Daniel Blochwitz.

Auch Reto Camenisch hat seine Maske[2], die er währenden den Bestrahlungen tragen musste fotografiert - nicht um sich besser erinnern zu können, sondern viel mehr gegen die Erinnerung.

© Reto Camenisch

Balts Nill sucht in seinem Text Versuch über das Subjektiv nach einer Erklärung des Subjektiv: Kein Schreibfehler: Nicht das Subjektive, sondern das Subjektiv ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Was das sein soll, das Subjektiv? Ich weiss es auch nicht. Aber eigentlich müsste es existieren, alleine schon aus sprachlichen Gründen…

© Reto Camenisch

Klappentext: Wer aus dem Schatten einer schweren Krankheit wieder ins Leben tritt, langsam, sich an das Licht gewöhnend und die Welt neu erkundend, der findet es anders vor, als es die Erinnerung bereit hält. Das hat an sich schon etwas Fotografisches. Am Ende genesen, aber körperlich und mental gezeichnet, begab sich Reto Camenisch in die therapierenden Hände eines Ayurveda-Hospitals. Ähnlich wie das sorgfältige Wässern den fotografischen Entwicklungsprozess abschliesst, um in der Sprache des Mediums zu bleiben, so half auch diese Zeit in Indien, Leib und Seele von Giften und Ängsten zu reinigen sowie Inspiration und schöpferische Kraft wiederzufinden.  Folgerichtig setzt das Buch an dieser Stelle ein und erzählt unaufgeregt vom nun beginnenden vierten Drittel seines Lebens.

© Reto Camenisch

Reto Camenisch ist 1958 geboren und arbeitet heute als freier Fotograf und Filmemacher. Bis 2005 war er als Bildjournalist für diverse Tageszeitungen und Magazine (Du, NZZ, Das Magazin, Facts, Annabelle, Bolero, Stern, Spiegel, Wiener Standart und andere) tätig. 1999 - 2022 war er Studiengangsleiter Fotografie an der MAZ - Die Schweizer Journalistenschule Luzern. Seine Arbeiten wurden in mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen (Galerie Bernhard Bischoff, Galerie Stephan Witschi, Kornhausforum Bern, Kunstmuseum Thun, Paris Photo und anderen) präsentiert und mehrfach ausgezeichnet (Kulturpreis der Bürgi Willert Stiftung Bern, Kulturpreis der Stadt Thun, Fotopreis Kanton Bern).

© Reto Camenisch

Daniel Blochwitz ist 1973 in Deutschland geboren und hat in den USA studiert und 2003 einen Master of Fine Art in Fotografie an der University of Florida abgeschlossen. Bereits während des Studiums hat er mehrere Semester Fotografie gelehrt und mit Prof. Barbara Jo Revelle seine erste Ausstellung kuratiert. Nach dem Studium ging er nach New York und absolvierte das postgraduierte Independent Study Program des Whitney Museums. Ab 2005 arbeitete er für verschiedene Galerien in New York und in der Schweiz. Seit 2015 ist er freier Kurator, Dozent und Berater in Zürich.

© Reto Camenisch

Balts Nill ist 1953 geboren und in Wengi bei Büren und Köniz aufgewachsen und nimmt in den 70iger Jahren Schlagzeugunterreicht bei Peter Giger und Pierre Favre. Er studierte Germanistik und Philosophie und ist als Journalist tätig. 1989 gründete er mit Endo Anaconda die Band "Stiller Has" und tourte das Land. Als Musiker und Autor ist er an zahlreichen musikalisch-literarischen Projekten beteiligt. 2002 wird er mit Pierre Kocher zusammen mit dem Berner Radiopreis für die Sendung "benerwasser" - eine Produktion von "chrüz & quer" geehrt. Seit 2020 wirkt er beim Figurentheater "Dakar Produktion" als Live-Musiker mit.

© Reto Camenisch

Die Till Schaap Edition entstand als Folgeprojekt des Benteli Verlages. Der Schwerpunkt des Programmes umfasst Kunst, Fotografie und Kulturgeschichte. Die enge Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern und Autorinnen und Autoren stehen dabei im Vordergrund. Das Anliegen des Verlages sind individuell gestaltete und mit grösster Sorgfalt hergestellte Publikationen, die international vertrieben werden.

Das Anliegen des Verlages liegt am Festhalten von künstlerischen Leistungen und Dokumentieren von Sammlungen, am Entdecken von verborgenen Schätzen und an spannenden kulturhistorischen Themen. Oder einfach nur am Erzählen von aussergewöhnlichen visuellen Geschichten.

Der Verlag engagiert sich sowohl in der deutschen wie auch in der französischen Schweiz und nimmt dabei eine wichtige Brückenfunktion ein. (Till Schaap Edition)

© Reto Camenisch

Bilder aus Das vierte Drittel und die Poesie der Angst sind bis zum 22. Oktober 2022 in der Galerie Bernhard Bischoff in Bern zu sehen. 

Das Buch kann direkt bei Reto Camenisch, bei Till Schaap Edition oder im Buchhandel bezogen werden.

© Reto Camenisch

[1] Ayurveda oder Ayurweda (Sanskrit, m., आयुर्वेद āyurveda, „Wissen vom Leben“, von veda, ‚Wissen‘) ist eine traditionelle indische Heilkunst, die bis heute viele Anwender in Indien, Nepal und Sri Lanka hat. In Asien, insbesondere in Indien, wird Ayurveda als Heilmethode auch wissenschaftlich gelehrt und von der Bevölkerung akzeptiert. Im westlichen Kulturkreis dagegen setzt man Ayurveda zumeist für Wellness-Zwecke ein, was in Asien erst durch den wachsenden Tourismus zum Thema wurde. Ayurveda ist keine therapeutische Einzelmaßnahme, sondern ein ganzheitliches System und gehört heute in den Bereich der traditionellen Alternativmedizin. Mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ist Ayurveda vielfach nicht vereinbar. Wirkungsnachweise nach den Grundprinzipien der evidenzbasierten Medizin sind kaum oder nicht vorhanden. (Quelle: Wikipedia)

[2] Bei Bestrahlungen im Kopf- und Halsbereich werden individuelle Masken aus einem thermoplastischen Kunststoffnetz angefertigt. Sie unterstützt die Ruhigstellung und hilft, beim nächsten Mal die gleiche Lagerung der zu fixierenden Körperregion zu erreichen.

Miryam Abebe